Khadgar nickte. »Selbstverständlich.« Schnell verließ er den Raum. Doch kaum hatte er die Türen hinter sich geschlossen, zauberte er eine Wahrsagekugel herbei. Die Kirin Tor trafen sich in einem stillen Raum, der, wie er annahm, magisch nicht nur gegen handfeste Attacken, sondern auch gegen Lauschangriffe gesichert war. Aber Khadgar hatte viel von Medivh gelernt und noch mehr aus den Büchern, die er nach dem Tod seines Meisters studierte. Zudem befand er sich noch nah an der Quelle.
Er konzentrierte sich, und die Farben wirbelten in der Kugel umher. Sie änderten sich von grün nach schwarz und wieder zurück. Gesichter erschienen, und ein schwaches Murmeln erklang. Dann sah er die Mitglieder des Rates in ihren violetten Roben. Selbst das sich bewegende Bild im Raum war zum Stillstand gekommen, sodass nur eine Kammer mit sechs Leuten übrig blieb.
»… wir nicht, wie weit wir ihm trauen können«, sagte der dicke Mann gerade. »Er schien nicht sehr geneigt zu sein, unseren Wünschen zu entsprechen.«
»Natürlich nicht«, antwortete Kael’thas knapp. »Ich bezweifle, dass du zugänglicher gewesen wärst, wenn du das alles erlebt hättest. Wir müssen ihm auch gar nicht trauen. Wir brauchen ihn nur, damit er uns mit Lothar bekannt macht und zwischen uns und den anderen vermittelt. Ich bin mir sicher, dass er unsere Anliegen nicht sabotieren oder sich gegen uns wenden wird. Oder uns Informationen vorenthält, die wir benötigen. Ich wüsste nicht, was wir sonst noch erwarten könnten.«
»Diese andere Welt, Draenor, beunruhigt mich«, murmelte Krasus. »Wenn die Orcs durch jenes Portal kommen konnten, könnten das auch andere tun. Von jeder Seite aus. Wir wissen, dass sie Oger mit sich brachten. Aber wir haben keine Ahnung, was von dort sonst noch kommen könnte. Sie könnten also noch viel üblere Kreaturen besitzen, die nur darauf warten, unsere Welt zu verwüsten. Außerdem haben wir keinerlei Möglichkeit, die Orcs daran zu hindern, auf ihre Heimatwelt zurückzukehren, wann immer ihnen der Sinn danach steht. Einen Feind zu bekämpfen, der eine uneinnehmbare Heimatbasis besitzt, ist erheblich schwieriger. Weil er angreifen und dann sofort wieder verschwinden kann. Wir sollten die Suche nach diesem Portal zu unserem vorrangigsten Ziel erklären.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Kael’thas. »Zerstören wir das Portal.«
Die anderen nickten.
»Gut, das ist also beschlossen. Was gibt es noch zu besprechen?«
In der Folge unterhielten sie sich über alltäglichere Dinge wie Reinigungspläne für die Laboratorien der Violetten Zitadelle.
Khadgar ließ die Kugel verschwinden. Es war besser gelaufen, als er erwartet hatte. Kael’thas hatte Recht. Er hatte viel in den letzten drei Jahren erreicht und eigentlich erwartet, dass die Kirin Tor sich über seinen Mangel an Respekt beschweren würden. Aber sie hatten gar nichts dazu gesagt und ihm seine Geschichte ohne weitere Fragen abgenommen.
Nun musste er in die Hauptstadt zurückteleportieren und schlafen, damit er morgen ausgeruht war.
Eine Woche später stand Lothar im Kommandozelt im Süden Lordaerons, unweit von Southshore, wo er mit Khadgar an Land gegangen war. Sie hatten diesen Bereich gewählt, weil er zentral genug lag, um jeden Teil des Kontinents schnell erreichen zu können, besonders mit dem Schiff.
Draußen wurden die Truppen auf Vordermann gebracht. Drinnen standen er, die Könige Lordaerons und die vier Männer, die er zu seinen Offizieren gemacht hatte, um einen Tisch herum und studierten die Karte, die darauf ausgebreitet lag.
Lothar hatte Uther zu seinem Verbindungsmann zur Silbernen Hand und zur Kirche bestimmt. Die Paladine hatten überraschende Fortschritte bei der Kampfeskunst und in der Beherrschung des Lichts gemacht. Khadgar stand im Kontakt mit den Magiern und seinem objektivsten Berater. Proudmoore befehligte natürlich die Marine, das hatte von vorneherein außer Frage gestanden.
Aber Turalyon, den guten Turalyon, hatte Lothar zu seinem Stellvertreter erwählt. Der junge Mann hatte ihn und Khadgar beeindruckt, indem er sich als schlau, konzentriert, loyal und fleißig erwies, auch wenn er Lothar immer noch wie eine Sagengestalt behandelte.
Lothar war sicher, dass der Jüngling dieses Verhalten schon bald ablegen würde, und konnte sich niemanden vorstellen, der besser als seine rechte Hand geeignet gewesen wäre.
Turalyon war natürlich immer noch hoch nervös in Anbetracht der großen Verantwortung, die ihm aufgebürdet worden war.
Sie besprachen dieselben Dinge wie schon seit einer Woche: welchen Weg die Horde wohl am wahrscheinlichsten wählen würde, wo sie angreifen würde und wie man die Truppen der Allianz am schnellsten dorthin verlegen konnte, ohne dabei jene Felder und die Ernte zu zertrampeln, die sie eigentlich beschützen wollten.
Gerade warf Graymane zum zehnten Mal ein, dass die Streitkräfte der Allianz am effektivsten entlang der Grenzen von Gilneas postiert wären, für den Fall, dass die Orcs dort zuerst erscheinen würden… da stürmte ein Kundschafter ins Zelt.
»Sire, das müsst Ihr Euch ansehen!«, rief er, während er seine Vorwärtsbewegung abbremste, sich verneigte und respektvoll grüßte. »Sie sind hier!«
»Wer ist hier, Soldat?«, fragte Lothar mit gefurchter Stirn. Er versuchte, aus dem Gesichtsausdruck des Kundschafters etwas herauszulesen, was angesichts der Nervosität des Mannes aber schwierig war. Er sah nicht völlig panisch aus, sodass Lothar erst einmal durchatmete und sein eigenes rasendes Herz wieder unter Kontrolle bringen konnte. Offenbar handelte es sich nicht um die Horde, auch wenn im Blick des Kundschafters Angst, gemischt mit Respekt, ja selbst Ehrfurcht flackerte.
»Die Elfen, Sire«, rief der Kundschafter. »Die Elfen sind hier!«
»Die Elfen?« Lothar musterte den Kundschafter und versuchte, die erhaltene Information zu verdauen. Dann sah er zu den versammelten Königen. Wie er vermutet hatte, hüstelte einer von ihnen und schaute demonstrativ schuldbewusst drein.
»Wir brauchen Verbündete«, erklärte König Terenas. »Die Elfen sind ein mächtiges Volk. Ich hielt es für das Beste, sie so schnell wie möglich zu kontaktieren.«
»Ohne mit mir vorher darüber zu sprechen?« Lothar war wütend. »Und was passiert, wenn sie eine ganze Armee geschickt haben und plötzlich verlauten lassen, dass sie die Führung übernehmen? Was passiert, wenn die Horde angreift, während wir noch versuchen, sie in unsere eigenen Streitkräfte zu integrieren? Man verbirgt solche elementaren Details nicht vor seinem militärischen Führer! Es könnte unseren Tod bedeuten. Oder zumindest den von vielen Eures Volkes!«
Terenas nickte nüchtern. »Ihr habt natürlich Recht«, antwortete er und erinnerte Lothar damit daran, warum er den König mochte: Die meisten Männer konnten keine Fehler eingestehen, am wenigsten diejenigen, die über viel Macht geboten. Aber Terenas übernahm die volle Verantwortung für seine Taten, für die guten ebenso wie für die schlechten. »Ich hätte zuerst mit Euch darüber sprechen sollen. Die Zeit drängte, doch das ist keine Entschuldigung. Es wird nicht noch einmal geschehen.«
Lothar nickte knapp. »Gut. Nun lasst uns herausfinden, wie diese Elfen aussehen.« Er verließ das Zelt, und die anderen folgten ihm.
Das erste, was Lothar sah, als er nach draußen trat, waren seine eigenen Soldaten. Die Armee füllte das Tal und die Gegend dahinter. Für einen Moment fühlte Lothar Stolz und Zuversicht. Wie sollte irgendjemand oder irgendetwas sich gegen eine derart mächtige Streitmacht stellen können? Aber dann sah er im Geiste noch einmal, wie die Horde über Stormwind gekommen war – eine unaufhaltsame grüne Flut. Seine Gedanken verloren ihren Optimismus. Dennoch war die Armee der Allianz um einiges größer als die Streitkräfte von Stormwind. Sie würden die Horde auf jeden Fall aufhalten.
Während er seine Truppen musterte, wanderte Lothars Blick auch zur Küste und dem anschließenden Meer. Proudmoores Schiffe lagen überall vor Anker. Es waren alle Größen und Bautypen vertreten, von kleinen, schnellen Aufklärern bis hin zu wuchtigen Zerstörern. Ein wahrer Wald aus Masten und Segeln breitete sich über den Wellen aus. Doch viele waren in die Docks gezogen worden, wodurch eine offene Fahrrinne entstanden war. Sie durchfuhr nun ein Verband von Schiffen, wie Lothar sie noch nie zuvor gesehen hatte.