Nein, diese Gestalten waren etwas anderes. Kurdran konnte eines der Wesen genau sehen, als er über eine kleine Lichtung flog.
Er runzelte die Stirn. Sie waren von massiger Statur und fast so groß wie Menschen, mit dicken Muskeln und langen Beinen. Und mit schweren Waffen: Äxten, Hämmern und Stäben. Was auch immer sie sein mochten, sie waren für den Kampf gerüstet.
Er zog an den Zügeln, und Sky’ree fächerte ihren Schwanz auf, breitete die Flügel aus und stieg wieder über die Baumhöhe hinaus, zurück in den Himmel.
Farand und die anderen kreisten weiter weg, die wettergegerbte Haut des Zwergs vermischte sich auf die Entfernung mit dem gelbbraunen Pelz ihrer Reittiere. Kurdran flog ebenfalls hoch. Sein geflochtener Bart und das Haar flatterten hinter ihm her. Er genoss das Gefühl des Fliegens, selbst unter diesen unfreundlichen Bedingungen.
In der Ferne sah er das riesige Steinbild eines Adlers, der wachsam und zuversichtlich in die Welt blickte. Dort lag seine Heimat – und das Herz seines Reiches: der Nistgipfel.
Aber diesmal erfüllte ihn der Anblick nicht mit Stolz und Freude, denn der Gipfel schien viel zu weit entfernt, um Trost zu spenden, vor allem, wenn man die Geschehnisse unter ihnen bedachte.
»Hast du’s gesehen, Thane?«, fragte Farand. »Ich hab’s ja gesagt. Hässliche Strolche in unserem Wald!«
»Ja, du hattest Recht«, sagte Kurdran dem Kundschafter. »Sie sind hässlich, und sie dringen hier einfach ein. Es sind eine ganze Menge. Es wird schwer sein, sie zu erwischen, solange sie sich unter den Bäumen befinden.«
»Dann lassen wir sie einfach so durch unser Gebiet ziehen?«, wollte einer der anderen Kundschafter wissen.
»Oh nein«, antwortete Kurdran. Er grinste den anderen Wildhammerzwergen zu. »Wir müssen sie nur zuerst aufschrecken und ins Freie scheuchen. Los, Leute, ab nach Hause. Ich habe ein paar Ideen. Aber keine Angst, wir räumen schon bald mit den Grünhäuten auf und machen ihnen klar, dass sie auf unserem Territorium unwillkommen sind!«
»He, Ihr da, Paladin!«
Turalyon schaute auf, als der Elf neben ihm stehen blieb. Er hatte nicht bemerkt, wie der Waldläufer eingetroffen war, doch das überraschte ihn auch nicht. In den letzten paar Wochen hatte er vielfach erfahren, wie schnell Elfen kommen und gehen konnten – und wie leise sie dabei waren. Ganz besonders Alleria, der es Spaß bereitete, ihn zu erschrecken, indem sie ihm überraschend etwas ins Ohr flüsterte, obwohl er noch nicht einmal mitbekommen hatte, dass sie wieder im Lager war.
»Ja?« Er säuberte seine Ausrüstung, wartete aber respektvoll.
»Die Orcs sind im zwergischen Hinterland«, berichtete der Elf. »Und sie treffen sich dort mit den Trollen.« Er sprach den Satz voller Ekel aus.
Turalyon hatte erfahren, dass die Elfen die Trolle hassten und dass diese Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhten. Beide waren Waldbewohner, doch die Wälder hier waren nicht groß genug für zwei Völker. Sie waren schon seit Jahrtausenden verfeindet, seit die Elfen die Trolle aus einem Teil des Waldes vertrieben und ihr Königreich auf dem eroberten Land errichtet hatten.
»Seid Ihr Euch sicher, dass sie wirklich Verbündete sind und sich ihre Pfade nicht durch Zufall kreuzten?«, fragte Turalyon und legte seine Rüstung beiseite. Er rieb sich über das Kinn. Wenn Orcs und Trolle sich wirklich zusammentaten, bedeutete das zusätzlichen Ärger.
Der Waldläufer schnaubte als Antwort. »Natürlich bin ich mir sicher! Ich habe sie belauscht. Sie haben eine Art Pakt geschlossen.« Der Elf sah zum ersten Mal besorgt aus. »Sie planen einen Angriff auf den Nistgipfel – und dann wollen sie gegen Quel’Thalas marschieren.«
Das erklärte seine Erregung. Quel’Thalas war die Heimat der Elfen, und die Trolle hassten sie. Wenn sie sich tatsächlich mit der Horde verbündet hatten, machte es also durchaus Sinn, sie genau dorthin zu führen.
»Ich sage Lothar Bescheid«, versicherte ihm Turalyon und stand auf. »Wir halten sie auf, bevor sie sich Eurer Heimat nähern können.«
Der Elf nickte, obwohl er nicht überzeugt wirkte, drehte sich um und lief zurück zu den Bäumen, zwischen denen er verschwand. Turalyon sah ihm nicht hinterher. Er war bereits auf dem Weg zum Kommandozelt.
Drinnen traf er Lothar und Khadgar, Terenas und ein paar andere.
»Die Orcs greifen den Nistgipfel an«, erklärte er im Eintreten. Jedermann wandte sich ihm zu, und Turalyon sah, dass sich einige Augenbrauen überrascht hochzogen. »Das hat mir gerade einer der Waldläufer berichtet«, erklärte er. »Die Orcs haben sich mit den Waldtrollen verbündet, und jetzt wollen sie den Nistgipfel angreifen.«
Terenas nickte und wandte sich der obligatorischen Karte auf dem Tisch zu. »Das macht Sinn«, gab er zu und tippte auf den Nistgipfel. »Die Wildhammerzwerge sind stark genug, um sich dem Kampf zu stellen, aber sie wollen einen Angriff aus dem Hinterhalt vermeiden. Und wenn die Orcs mit den Trollen zusammenarbeiten, wollen sie gemeinsam die Zwerge aus dem Hinterland vertreiben.«
Lothar betrachtete ebenfalls die Karte. »Es wird schwer werden, sie im Wald zu bekämpfen«, merkte er an. »Wir können uns dort nicht richtig aufstellen, und wir wären gezwungen, unsere Katapulte zurückzulassen.« Er strich sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn. »Andererseits können sie ihre eigenen Truppen auch nicht optimal antreten lassen. Wir könnten vereinzelte kleinere Gruppen von Orcs angreifen, ohne uns darum sorgen zu müssen, dass sie die ganze Armee gegen uns einsetzen.«
»Außerdem wären die Zwerge starke Verbündete«, meinte Khadgar. »Wenn wir ihnen helfen, helfen sie uns vielleicht auch. Sie sind exzellente Kundschafter.«
»Wir könnten die Zwerge und ihre Greifen sicherlich gut gebrauchen«, stimmte Lothar zu. Er schaute auf, blickte Turalyon an und nickte. »Sammelt die Truppen«, befahl er. »Wir ziehen in den Wald, um die Zwerge zu retten.«
»Bei den Ahnen, sind das viele! Wie die Fliegen – nur größer und besser bewaffnet!« Kurdran fluchte, als er die Lage unter sich betrachtete. Er und eine Jagdgruppe waren auf Patrouille und flogen hoch über den Orcs, um eine bessere Übersicht über die Grünhäute zu bekommen. Was er sah, war gar nicht gut.
Die Kreaturen marschierten schnell und waren nur noch einen Tagesmarsch vom Nistgipfel entfernt. Zuerst hatte er lediglich ein paar von ihnen gesehen, aber dann war ihm eine weitere Gruppe nicht weit entfernt aufgefallen… und dann eine dritte. Die anderen hatten ähnliches berichtet. Obwohl die Grünhäute in Gruppen von jeweils zwanzig Kriegern aufgeteilt waren, gab es mehr dieser Einheiten, als man zählen konnte.
Die Wildhammerzwerge hatten vor nichts Angst, aber wenn diese Kreaturen auch nur halb so stark waren, wie sie aussahen, konnten sie den Gipfel allein schon durch die schiere Übermacht überrennen.
Nicht, dass sie das zulassen würden.
Kurdran sah sich um, und jeder der Zwerge nickte zurück. »Gut«, sagte er und hob sein Horn an die Lippen. »Wildhammerzwerge, zum Angriff!« Er blies ins Horn und hängte es sich dann wieder um. Dabei brachte er Sky’ree bereits mit den Knien in Position. Sie reagierte mit einem wilden Schrei, breitete die Schwingen aus und stieg auf, bevor sie die Flügel anlegte und sich auf den Sturzflug vorbereitete. Während sie nach unten stürzten, löste Kurdran seinen Sturmhammer und hob die Waffe.
Aber vorerst waren die Grünhäute nicht seine Ziele. Stattdessen schlug er dem ihm am nächsten befindlichen Baum hart gegen den Stamm. Durch den Aufprall regnete es Blätter, Beeren und Nadeln, was die verwirrten Grünhäute ärgerte.
Kurdran schlug gegen zwei weitere Bäume, aus deren Wipfeln Tannenzapfen und Nüsse auf die Kreaturen hagelten, so heftig, dass sie Beulen verursachten. Die Grünhäute duckten sich und hoben abwehrend die Hände, um ihre Augen zu schützen. Doch die Aktion wurde fortgesetzt, als die Wildhammerzwerge weiter gegen die Bäume schlugen.