»Wir bewegen uns so schnell, wie wir können«, erklärte er ihr. Dann aber fiel ihr auf, dass er nach hinten blickte… und das Tempo etwas anzog. »Ihr wisst, dass unsere Männer nicht so schnell sind wie Ihr. Außerdem bewegen sich Armeen immer langsamer als Einzelne.«
»Dann gehe ich eben allein, wie ich es von Anfang an hätte tun sollen«, erwiderte sie. Sie machte sich bereit, um hinter dem Pferd hervorzupreschen und im Wald zu verschwinden.
»Nein!« Etwas in seiner Stimme bremste sie, und sie fluchte. Warum verweigerte sie ihm nicht einfach den Gehorsam? Er hatte nicht dieselbe Ausstrahlung wie Lothar, und sie arbeitete freiwillig mit der Armee zusammen, nicht auf irgendeinen Befehl hin.
Aber wenn er ihr Anweisungen erteilte, konnte sie sich ihnen einfach nicht widersetzen.
»Lasst mich gehen!«, verlangte sie. »Ich muss meine Leute warnen!« Ihr Herz schmerzte erneut, wenn sie an ihre Schwestern dachte, ihre Freunde, ihr Volk, die alle warnungslos auf die Horde treffen würden.
»Wir werden die Elfen verständigen«, versicherte ihr Turalyon mit fester Stimme. »Und wir helfen ihnen gegen die Horde. Aber wenn Ihr allein geht, werdet Ihr nur gefangen genommen und getötet. Das… würde niemandem nützen.«
Es klang, als hätte er etwas anderes sagen wollen. Sie spürte das plötzliche Aufwallen von… sie wusste nicht, was – Freude?… in ihrer Brust. Doch sie hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern.
»Ich bin Elfe und eine Waldläuferin!«, erwiderte sie hitzig. »Ich kann inmitten dieser Bäume verschwinden! Niemand findet mich dann noch.«
»Auch kein Waldtroll?«
Sie sah den Zauberer an, der an Turalyons Seite ritt.
»Die Kerle arbeiten nachweislich mit der Horde zusammen«, fuhr er fort. »Und wir wissen, dass sie Euch im Wald ebenbürtig sind.«
»Fast, vielleicht«, gestand sie ein. »Aber ich bin trotzdem besser.«
»Niemand bestreitet das«, stimmte Khadgar diplomatisch zu, obwohl sie ein kurzes Schmunzeln hinter seiner ruhigen Miene aufblitzen sah. »Doch wir wissen nicht, wie viele Trolle da draußen sind. Und zehn würden Eure überlegenen Fähigkeiten sicherlich ausgleichen.«
Alleria fluchte erneut. Er hatte Recht. Sie wusste es. Aber das änderte nichts daran, dass sie schleunigst nach Hause wollte, ganz egal, welche Hindernisse ihr im Weg standen. Sie hatte die Horde erlebt, hatte gesehen, was sie anrichten konnte. Sie kannte die Gefahren, die davon ausgingen. Und jetzt waren Orcs und Trolle unterwegs in ihre Heimat – und niemand dort hatte eine Ahnung, welche Gefahr ihm drohte!
»Seht einfach zu, dass Eure Leute sich angemessen bewegen!«, zischte sie Turalyon zu, sprintete voraus und erkundete den Weg.
Sie hoffte beinahe, dass sie auf ein paar Trolle oder Orcs stieß. Aber sie wusste, dass sie dafür noch zu weit entfernt waren. Die Horde hatte einen deutlichen Vorsprung, und wenn diese menschlichen Soldaten nicht schneller als in ihrem Schneckentempo vorankamen, würde der Abstand noch sehr viel größer werden!
»Sie ist besorgt«, sagte Khadgar leise, während sie Alleria beobachteten, wie sie in der Ferne verschwand.
»Ich weiß«, antwortete Turalyon. »Ich kann es ihr nicht verdenken. Ich wäre auch besorgt, wenn sich die Horde meiner Heimat nähern würde. Ich war es jedenfalls, als wir geglaubt haben, dass sie auf die Hauptstadt zumarschieren. Und diese Stadt ist mir mehr Heimat als jeder andere Ort, wo ich in den letzten zehn Jahren gelebt habe.« Er seufzte. »Außerdem hat sie nur die halbe Armee der Allianz als Schutz. Und nur mich als Kommandanten.«
»Stell dein Licht nicht so unter den Scheffel«, warnte ihn sein Freund. »Du bist ein guter Kommandeur und ein ehrenhafter Paladin. Du gehörst zur Silbernen Hand, den Besten. Sie hat Glück, dass sie dich hat.«
Turalyon lächelte, dankbar für den Rückhalt. Er wünschte sich nur, dass er alles hätte glauben können. Er wusste, dass er in der Schlacht gut war – er hatte ausreichend trainiert, und der erste Zusammenstoß mit der Horde hatte bewiesen, dass er sich auch in einem echten Gefecht behaupten konnte.
Aber war er auch ein Anführer? Vor diesem Krieg hatte er niemals irgendjemanden angeführt. Er war nicht einmal Vorbeter gewesen. Was wusste er also schon darüber?
Ja, als Junge war er immer ganz vorne mit dabei gewesen. Oftmals hatte er die Spiele erfunden, die er mit seinen Freunden spielte – oder hatte eine ihrer Fantasiearmeen kommandiert. Doch seit er in die Priesterschaft eingetreten war, hatte sich alles geändert. Er hatte Befehle von älteren Priestern entgegen genommen. Als er in Faols Dienste getreten war, führte er die Anweisungen des Bischofs aus. Und nachdem er den Paladinen beigetreten war, hatte Uther sich um ihn gekümmert.
Uther war eine starke Persönlichkeit, die keinerlei Diskussion duldete. Er war zudem der Älteste und derjenige, der dem Erzbischof am nächsten stand.
Turalyon war überrascht gewesen, dass Lothar nicht Uther zu seinem Leutnant ernannt hatte. Vielleicht glaubte er, dass der Glaube des Paladins es ihm schwer gemacht hätte, mit weniger gläubigen Männern umzugehen.
Turalyon jedenfalls hatte sich durchaus geehrt gefühlt, auch wenn er sich fragte, was er denn Großartiges getan hatte, um sich diese Ehre zu verdienen.
Falls er sie denn überhaupt verdiente.
Lothar schien davon überzeugt zu sein. Der Held von Stormwind hatte genügend Erfahrung, um so etwas beurteilen zu können. Er war ein unglaublicher Krieger und ein beeindruckender Anführer dazu. Jemand, dem die Männer automatisch folgten. Die Sorte Mann, die jedem Respekt und Gehorsam abnötigte. Die Soldaten der Allianz nannten ihn »den Löwen von Azeroth«, was vom Anblick des Symbols auf seinem Schild kam, das durch die Reihen der Orcs im Hügelland schimmerte.
Turalyon fragte sich, ob er jemals selbst auch nur einen Hauch dieser Persönlichkeit besitzen würde.
Er fragte sich außerdem, ob er genauso fromm wie Uther werden konnte. Und ob aus seinem Glauben auch derartige Kräfte erwachsen würden.
Turalyon glaubte natürlich an das Heilige Licht. Das tat er seit seiner Kindheit. Der Dienst in der Priesterschaft hatte ihn dem herrlichen Licht näher gebracht. Aber er hatte es noch nie direkt gespürt, nicht mit voller Stärke, nur einen Schimmer seiner Gegenwart – oder wie es auf jemand anders wirkte. Nachdem er die Horde gesehen und sie im Kampf erlebt hatte, war sein Glaube schwächer denn je.
Das Heilige Licht befand sich in jedem lebenden Geschöpf, in jedem Herzen und jeder Seele. Es war überall, eine Energie, die alle fühlenden Wesen zu einem Ganzen verband.
Aber die Horde war fürchterlich, war monströs. Sie tat Dinge, die kein rationales Wesen tun würde, lasterhafte, schreckliche Dinge, jenseits aller Vergebung. Wie konnten solche Kreaturen Teil des Heiligen Lichts sein? Wie konnte sein heller Schein in solch völliger Dunkelheit wohnen?
Und wenn es doch da war, was sagte das über seine Stärke aus, wenn seine Reinheit und Liebe derart korrumpiert werden konnte? Und wenn die Horde nicht Teil des Heiligen Lichts war, dann war das Licht auch nicht überall, wie Turalyon es gelernt hatte.
Er war verwirrt. Und genau das war das Problem. Sein Glaube war nachhaltig erschüttert. Er hatte mehrmals zu beten versucht, seit sie auf die Horde getroffen waren. Aber es waren nur leere Worte gewesen. Er war nicht mit dem Herzen bei der Sache. Und ohne diese Hingabe bedeuteten diese Worte nichts, bewirkten nichts. Turalyon wusste, dass die anderen Paladine ein Segen für Soldaten sein konnten. Sie spürten das Böse. Sie heilten sogar schlimme Wunden durch eine einzige Berührung.
Aber er konnte das nicht. Turalyon war sich nicht sicher, ob er dieses Talent je besessen hatte. Auf jeden Fall besaß er es jetzt ganz gewiss nicht. Er fragte sich, ob er überhaupt jemals dazu fähig sein würde.
»Du bist still geworden.« Khadgar beugte sich zu ihm und stupste ihn mit einer Hand an. »Denk nicht zu viel nach, oder du fällst noch aus dem Sattel.«
Sein Tonfall war freundlich und klang nur leicht besorgt. Turalyon gab sein Bestes, um über den schwachen Witz zu lachen.