»Dann bin ich ein Ogermagier, ja?« Es klang befriedigt. Ein Kopf grinste, der andere lachte leicht, obwohl er verwirrt schien.
»Ja«, stimmte Gul’dan zu, ebenfalls zufrieden. »Du bist einer von uns.«
»Was bedeutet einer von uns’?«, fragte die Kreatur als nächstes, ihr kleinerer Kopf furchte die Stirn. »Was fange ich mit diesem Geschenk an?«
Gul’dan erzählte dem Oger von der Horde. Er erzählte auch von der Notwendigkeit, diese Welt zu erobern – und alles über die anderen Völker, die ihnen bereits begegnet waren. Der Ogermagier hörte ruhig zu und nahm jedes Detail auf.
»Du hast mich erschaffen«, sagte er schließlich. Es war keine Frage, aber Gul’dan nickte. »Dann bin ich deine Kreatur«, bestätigte der Oger. »Ich werde dir dienen. Dein Weg ist meiner. Was soll ich tun?«
Innerlich war Gul’dan hoch erfreut und zufrieden. Es war genau so, wie er gehofft hatte. Indem er einen zweiköpfigen Oger durch seine Magie geschaffen hatte, hatte er ein Band zwischen ihnen gewoben.
Die Kreatur war völlig loyal! Nach außen hin zumindest… Er bemühte sich, nicht zu viel Optimismus zu zeigen. Stattdessen winkte er Cho’gall zu sich heran.
»Das ist Cho’gall«, erklärte Gul’dan an den Oger gewandt. »Er ist wie du mein vertrauter Assistent und ein Ogermagier. Er wird dir alles erklären. Und er wird dir einen eigenen Namen geben.«
Der neue Oger senkte beide Köpfe. »Habt Dank, Meister«, sagte der düstere Kopf, bevor die Kreatur mit Cho’gall fortging.
Gul’dan wusste, dass sein Assistent den neuen Ogermagier dazu benutzen würde, den Altar erneut aufzuladen. Und jedes Mal würde dabei ein neuer zweiköpfiger Oger entstehen. Er wusste, dass er nicht erwarten durfte, dass sie alle auch zauberkundig sein würden. Aber wenn auch nur einer von zehn die notwendige Intelligenz besaß, würde er einen zweiten Altar bauen und den ebenso mit Energie versorgen.
Gul’dan lachte. Er würde jeden Oger der Horde verwandeln, wenn Doomhammer ihn nicht stoppte. Und warum sollte er? Doomhammer wusste nur, dass er größere und stärkere Krieger bekam. Der Kriegshäuptling würde nie vermuten, dass diese neuen Kreaturen Gul’dan ergeben waren. Und Gul’dan würde dafür sorgen, dass sie ihre wahre Loyalität nicht zu früh offenbarten. Erst, wenn es an der Zeit war. Und dann würde Doomhammer erkennen, dass es eine neue Fraktion innerhalb der Horde gab. Eine, die er nicht so leicht zerschlagen oder beiseite schieben konnte.
Gul’dan lachte wieder und wandte sich ab. Cho’gall würde für den Rest des Prozesses Sorge tragen. Er selbst musste sich um andere Aufgaben kümmern. Sie würden später sicherstellen, dass er in nicht allzu ferner Zukunft die Macht beanspruchen konnte, die woanders bereits auf ihn wartete.
14
»Beim Silbermond – wo sind sie?« Alleria rannte durch den Wald, das Schwert in der Hand. Blätter und Zweige jagten verschwommen an ihr vorbei. Die anderen Waldläufer hatten sich verteilt, um einen größeren Bereich abzudecken. Alleria hoffte, dass sie nicht auf Trolle oder Orcs gestoßen waren – diese bösartigen grünhäutigen Eindringlinge wollte sie für sich selbst.
Sie sah die Feuer und wünschte sich nicht zum ersten Mal, ihre Heimat nie verlassen zu haben. Wie hatte sie nur annehmen können, dass die Allianz ihre Hilfe brauchte? Waren Anasterian Sonnenwanderer und die anderen Ratsmitglieder nicht viel älter und weiser als sie und wussten daher besser, welche Art von Hilfe die jüngeren Völker brauchten?
Andererseits war Anasterian davon überzeugt gewesen, dass die Horde niemals eine Bedrohung für Quel’Thalas darstellen könnte. Und so hatte er entschieden, dass die Allianz sie nichts anging, denn die Elfen waren ja nicht bedroht.
Offensichtlich hatte er damit falsch gelegen.
Doch wenn Alleria auf ihn gehört und seine Entscheidung akzeptiert hätte, wäre sie im entscheidenden Moment hier gewesen. Sie wäre nicht den Fluss hinuntergefahren und über die Hügel marschiert. Als die Orcs und Trolle kamen und die Horde die Grenze überschritt, hätte sie ihrer Familie, ihrem Volk beistehen können.
Aber hätte ihre Anwesenheit überhaupt einen Unterschied ausgemacht? Sie wusste es nicht. Was konnte ein einzelner Waldläufer schon ausrichten? Und wie konnte er einen Feind aufhalten, von dem er gar nicht wusste, dass er anrückte?
Doch immerhin würde sie sich nicht fühlen, als hätte sie ihr Volk in der Stunde der Not im Stich gelassen.
Der Gedankengang spornte sie an und verlieh ihr mehr Schnelligkeit. Auf einer kleinen Lichtung sprang sie über einen niedrigen Busch, landete zwischen zwei Bäumen…
… und sah plötzlich die Spitze eines Pfeils vor sich, der auf ihre Kehle gerichtet war.
Die Gestalt, die den Bogen hielt, war annähernd so groß wie sie und trug sogar ähnliche Kleidung. Allerdings war die ihres Gegenübers sauberer. Langes Haar fiel unter der Kapuze hervor und glänzte fast wie Elfenbein in der Sonne. Das leuchtende Silber kannte Alleria nur zu gut.
»Vereesa?«
Die Gestalt senkte den Bogen. Ihre blauen Augen weiteten sich vor Überraschung und Erleichterung. »Alleria?« Ihre jüngere Schwester umarmte die Elfe herzlich. »Du bist wieder zuhause!«
»Natürlich.« Alleria drückte Vereesa und strich ihr über den Kopf. Die Geste war so vertraut und kam ganz wie von selbst. »Wo ist Sylvanas? Sind Vater und Mutter in Sicherheit?«
»Sie sind wohlauf«, antwortete Vereesa, die Alleria losließ und ihre Waffen einsammelte. »Sylvanas ist mit einer Jagdgruppe am Flussufer. Vater und Mutter sollten in Silbermond sein. Sie wollten sich mit den Ältesten treffen.« Sie machte eine Pause und steckte die Pfeile in den Köcher. »Alleria, wo warst du? Hier gibt es zahlreiche Brände. Überall in Quel’Thalas. Und einige der Waldläufer melden sich plötzlich nicht mehr.«
Alleria spürte, wie ihr Magen sich angesichts dieser Information verkrampfte. Wenn Waldläufer verschwunden waren, musste die Horde bereits tief in den Wald vorgestoßen sein. »Wir werden angegriffen, kleine Schwester«, antwortete sie – dann hob sie unvermittelt ihr Schwert und wirbelte herum. Dabei wandte sie ihrer Schwester den Rücken zu. Ihre Ohren zuckten. »Und jetzt, sei still.«
»Aber…« Vereesa verstummte, als eine große Gestalt aus den Baumwipfeln herunterkrachte. Sie hielt eine kurzstielige Axt in der Hand.
Alleria ging zum Angriff über, noch bevor die Kreatur auf dem Boden gelandet war. Sie hob ihr Schwert, parierte den Schlag ihres Gegners, drehte sich seitwärts… und entging so geschickt dem zweiten, mit einem langen Krummdolch geführten Angriff.
Alleria schwang ihr Schwert und schlug der Bestie den Kopf ab. Der Troll stürzte, die Waffen fielen aus seinen leblosen Händen.
»Schnell!«, rief Alleria. »Wir müssen hier weg! Sofort!«
Vereesa hatte die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Sie nickte, gehorchte dem Befehl ihrer Schwester und rannte los, um wahrscheinlichen weiteren Angreifern zu entkommen. Sie war noch jung, die jüngste von drei Schwestern, und war noch nie in einen echten Kampf verwickelt gewesen. Alleria hatte gehofft, dass das auch noch für einige Zeit so bleiben würde. Doch jetzt war es zu spät, sich darum zu sorgen.
Sie hetzten durch den Wald. Alleria war sicher, dass sie von irgendwoher Gelächter hörte.
Trolle! Die Kreaturen folgten den beiden Elfen und hielten hoch oben im Geäst mit ihnen Schritt. Zweifellos wollten die Bestien sich von dort auf sie herabstürzen und sie töten, bevor einer von ihnen Hilfe alarmieren konnte.
Aber die Trolle kannten diesen Wald nicht – im Gegensatz zu Alleria.
Vereesa und ihre unsichtbaren Verfolger im Schlepp, lief Alleria Haken schlagend durch das Unterholz, wechselte die Richtung und überquerte kleine Bäche und Lichtungen, warf sich durch Büsche oder duckte sich unter Bäumen und Lianen hindurch.
Vereesa hielt Schritt mit Alleria, ihren Bogen hatte sie fest in der Hand. Und von oben erklang nach wie vor Gelächter.