Etwas an dieser Situation war merkwürdig. Warum schickte die Horde fliegende Einheiten voraus, wenn sie über Tausende Orcs verfügte? Handelte es sich um einen Kundschafter, einen Spion? Oder um etwas ganz anderes?
Die Bogenschützen stellten sich auf. Sie hatten die Langbögen gespannt, die Pfeile eingehakt und warteten nun geduldig. Der Umriss wurde größer, und nun erkannte Terenas, dass es ein Greif war, der aber beeindruckender und schöner wirkte als auf den heraldischen Symbolen, die er kannte. Seine Federn leuchteten golden, violett und rot im Sonnenlicht. Sein Kopf ruckte vogelgleich herum, und große, goldene Augen prüften die Umgebung.
Auf seinem Rücken saß eine Gestalt und hielt die Zügel. Sie hatte es sich auf einem Sattel bequem gemacht, wie auf einem Pferd. Besagter Reiter war groß, aber nicht so groß wie ein Orc. Und er trug – anders als die grünhäutigen Krieger unter ihm – Kleidung.
Terenas atmete erleichtert auf, als er die violette Robe erkannte. Das konnte nur eines bedeuten.
»Senkt eure Waffen«, rief er den Bogenschützen zu. »Es ist ein Zauberer aus Dalaran!«
Der Greif glitt auf sie zu. Seine Flügel schlugen mächtig aus. Dann kreiste er über ihnen. Die Bogenschützen zielten wieder auf die Orcs. Der Reiter suchte eindeutig nach einem Landeplatz. Schließlich ging er auf dem nahe gelegenen Turm nieder, der über eine große Plattform für Kessel und Katapulte verfügte. Terenas eilte ihm entgegen, Morev befand sich dicht hinter ihm. Sie erreichten den Turm gerade, als der Greif aufsetzte und die Flügel um seinen Körper faltete.
»Nun, es ist gut zu wissen, dass ich es nicht verlernt habe«, verkündete der Reiter und schwang sich aus dem Sattel. »Danke.«
Terenas hörte, wie der Zauberer mit dem Greifen sprach, der als Antwort krächzte. Dann wandte der Ankömmling sich um. Sein kurzer weißer Bart machte ihn unverkennbar, und Terenas atmete tief durch.
»Khadgar!«, rief er dann, hielt ihm die Arme entgegen und drückte dem Magier schließlich die Hand.
»Ich komme mit guten Neuigkeiten«, antwortete der alt wirkende Magier und grinste. Er sah müde aus, aber sonst schien es ihm gut zu gehen. »Turalyon und seine Streitkräfte sind auf der anderen Seite des nördlichen Tals«, informierte er Terenas und nahm dankbar einen Weinschlauch entgegen, den Morev ihm reichte. Er trank einen Schluck. »Wir werden die Horde von hinten angreifen und sie von euch weglocken.«
»Ausgezeichnet!« Terenas klatschte in die Hände und war das erste Mal seit Tagen erleichtert. »Mit der Armee der Allianz hier können wir von zwei Seiten angreifen und die Orcs zwischen uns zerquetschen!«
»Das war Turalyons Plan«, stimmte der Magier ihm zu. »Kurdran hat mir seinen Greifen geliehen, damit ich euch erreichen konnte und alles koordiniere. Ich bin dankbar, dass ich von Medivh gelernt habe, wie man so ein Tier lenkt.«
»Kommt«, sagte Terenas. »Meine Diener werden sich um den Greifen kümmern. Er wird Wasser bekommen, und ich bin mir sicher, wir werden auch etwas zu essen für ihn auftreiben. Lasst uns über Turalyons Pläne sprechen – und wie wir die Orcs dazu bringen, dass sie den Tag bereuen, an dem sie es wagten, ihre Waffen gegen unsere Stadt zu erheben.«
»Attacke!« Turalyon hielt den Hammer wie eine Lanze vor sich. Er trieb sein Pferd aus dem Wasser an den Strand und auf die Orcs zu.
Die konzentrierten sich noch auf die Stadtmauern, welche sie mit grimmiger Entschlossenheit einreißen wollten. Nur ein paar hörten das Geräusch der Pferdehufe und drehten sich um.
Ein Orc öffnete das Maul, um eine Warnung zu brüllen, aber Turalyons Hammer erwischte ihn voll über dem Kiefer, zerschmetterte ihn und brach ihm mit der Wucht des Schlages zugleich das Genick. Der Orc fiel um, und Turalyons Pferd trampelte über ihn hinweg.
Hinter ihm ritt der Rest der Kavallerie, gefolgt von den Fußsoldaten, die die Ebene nördlich der Stadt überquert hatten und jetzt gegen die Horde zogen.
Das war der Moment, in dem die Katapulte der Stadt zu feuern begannen. Steine fielen auf die Orcs herab, dazu hagelte es Pfeile.
Turalyon führte seine Reiter in die vordersten Reihen der Horde und durch sie hindurch, wendete… und pflügte mit seiner Waffe in anderer Richtung durch die Feinde.
Die Verteidiger der Stadt kannten so wenig Pardon wie die Angreifer.
Die Orcs zeigten sich verunsichert durch soviel Vehemenz, Entschlossenheit und strategischem Geschick. Wenn sie die Stadt attackierten, griffen die Soldaten der Allianz von hinten an. Wandten sie sich dann den Soldaten zu, attackierte sie die Stadtwache.
Noch trotzten die Stadtmauern dem beständigen Anrennen, und so konnten die Orcs nicht in die Hauptstadt zurückweichen. Und auch der Weg zum See, auf die Ebene oder in die Berge war ihnen von den Soldaten der Allianz versperrt.
Egal, wohin sie sich auch wandten, die Orcs starben.
Unglücklicherweise konnte die Horde sich diese Verluste leisten. Eine Reihe massiger Orc-Krieger marschierte mit erhobenen Waffen vorwärts, und Turalyon war gezwungen, seine Reiter zurückzuziehen. Die elfischen Bogenschützen schossen eine Pfeilsalve ab, die auf die Orcs herabregnete und viele tötete. Aber neue Krieger nahmen sofort ihren Platz ein. Die Orcs begannen, sich der Allianzarmee entgegenzuwerfen, die dadurch zum Rückzug gezwungen wurde. Schritt um Schritt wurden Turalyon und seine Mannen über die Brücken zurückgetrieben.
Als die Streitkräfte der Allianz außer Reichweite waren, wandte die verbliebene Horde ihre Aufmerksamkeit wieder der Hauptstadt zu. Die Orcs rannten gegen die Mauern an, und die Ölvorräte der Stadt waren schnell aufgebraucht, ebenso wie Steine, Kies und was sonst noch zur Abwehr genutzt werden konnte.
Die Katapulte konnten nicht überallhin feuern, sonst riskierten die Verteidiger, dass die Treffer den Mauern mehr Schaden zufügten, als die Horde es vermochte. Und deshalb befanden sich einige Orcs nun in einer unantastbaren Position, um die Wälle zu erklimmen und die Tore anzugehen. Derzeit hielten sie noch stand. Niemand wusste jedoch, wann sie nachgeben würden.
Orc-Krieger erreichten jetzt die Befestigungen, zogen sich daran hoch und warfen sich darüber. Die meisten wurden von den Verteidigern spätestens dann zurückgeschmettert, erdolcht oder erschlagen, wenn sie die Mauerkrone erreichten. Aber ein paar schafften es doch hinüber und begannen, die Wachen zu attackieren, warfen sich ins Gefecht und rissen Lücken in die Verteidigung.
Die erste Welle, die den Wall überklettern wollte, starb praktisch sofort, doch es folgten stetig neue. Die sich auftürmenden Leichen verhalfen den Orcs zu etwas Deckung, während sie die Wände erklommen. Dadurch fanden ihre Füße Halt, und sie konnten ihre Waffen in Position bringen, um die Wachen zu attackieren.
»Das funktioniert nicht«, rief Khadgar Turalyon zu, als sich sie mit ihren Pferden über eine Brücke zurückzogen, die die Orcs errichtet hatten, um den See zu überqueren. »Wir haben nicht genug Kämpfer, um sie niederzuringen. Wir müssen etwas anderes versuchen!«
»Ich bin offen für Vorschläge«, antwortete Turalyon und erschlug einen vorstürmenden Orc mit seinem Hammer. »Kannst du deine Magie nicht noch einmal einsetzen?«
»Doch, aber sie würde nicht viel nützen«, antwortete Khadgar und stach einen Orc, der ihm zu nahe kam, mit dem Schwert nieder. »Ich kann immer nur ein paar Gegner auf einmal töten. Ich könnte einen Sturm heraufbeschwören, aber das würde uns nicht viel helfen. Ich wäre danach zu ausgelaugt, um weitere Zauber wirken zu können.«
Turalyon nickte. »Lass uns die Männer zurück über den See führen und diese Brücke halten«, schlug er seinem Freund vor und schwang seinen Hammer. Dabei stieß er einen Orc mit seinem Schild ins Wasser. »Dann müssen wir abwarten, bis sie das Interesse an uns verlieren. Sobald sie die Stadt wieder angreifen, greifen wir sie erneut an.«
Khadgar, der nicht reden konnte, weil er sich gerade verteidigen musste, nickte. Er hoffte, dass sein neuer Plan funktionieren würde. Denn falls die Horde auf die Idee kam, die Brücke einfach abzubrennen, konnte sie danach die Stadttore völlig ungestört zum Einsturz bringen. Waren die Orcs erst einmal in der Stadt, würden sie sie dort nicht wieder hinaus bekommen. Khadgar hatte schon bei anderer Gelegenheit gesehen, was passierte, wenn die Orcs eine Stadt einnahmen – in Stormwind. Er wollte so etwas nicht noch einmal erleben.