Torgus wartete immer noch auf Befehle. Aber dann wandten sich beide einem anderen Orc zu, der plötzlich auftauchte. Es war Tharbek, Doomhammers junger Blackrock-Stellvertreter.
Er blieb exakt außerhalb der Reichweite des Drachenschwanzes stehen, der ärgerlich zuckte.
»Ja?«
»Es gibt ein Problem«, informierte ihn Tharbek ohne Umschweife. »Der Weg durch die Berge ist abgeschnitten.«
»Warum?« Doomhammer starrte an dem Drachen vorbei in Richtung der Berge von Alterac. Er erkannte, dass der stete dunkle Strom aus Orcs zum Erliegen gekommen war. »Was ist passiert?«
Tharbek schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Aber wir kommen nicht mehr durch die Pässe. Ich habe Krieger ausgesandt, doch sie sind nicht zurückgekommen.« Sein Gesichtsausdruck machte klar, dass sie bereits überfällig waren.
»Verdammt!« Doomhammer biss die Zähne zusammen. »Dieser Mensch hat uns verraten! Ich wusste, dass man einem, der die eigene Rasse verkauft, nicht trauen kann!«
Trotz solcher Vorbehalte hatte er darauf gesetzt, dass der vermummte Mann zu feige wäre, um sich gegen ihn zu stellen. Entweder hatte die Allianz Stärke bewiesen, oder man hatte dem Kerl mit etwas Schlimmerem als dem Wüten der Horde gedroht.
Vielleicht hatte man auch den Verrat durchschaut und ihn seines Amtes enthoben. Ja, das war am wahrscheinlichsten. Dieser Mann war viel zu versessen auf das Stillhalteabkommen gewesen, als dass er einen Rückzieher gemacht hätte. Vor allem, weil immer noch Krieger der Horde in der Nähe waren. Offenbar war er entmachtet und ersetzt worden. Andere kontrollierten jetzt die Bergregion.
»Wie viele Orcs sind dort gefangen?«, wollte er wissen.
Tharbek zuckte die Achseln. »Unmöglich zu sagen«, erwiderte er. »Aber mindestens der halbe Clan, wenn nicht mehr.« Er sah sich um. »Wir haben hier noch viele Krieger«, sagte er. »Und wenn Gul’dan und die anderen eintreffen, sind es noch mehr.«
Doomhammer lachte bitter. Ihm schwirrte der Kopf. »Die anderen! Die anderen kommen nicht!«
Tharbek blickte überrascht auf.
»Gul’dan hat uns verraten«, teilte Doomhammer seinem Stellvertreter mit. Er konnte die Worte kaum aussprechen. »Er hat sich die Schiffe und zwei unserer Clans unter den Nagel gerissen und ist hinaus auf die Große See gefahren.«
»Aber warum?«, fragte Tharbek verwundert. »Wenn wir diesen Krieg verlieren, haben wir alle kein Zuhause mehr. Er auch nicht.«
Doomhammer schüttelte den Kopf. »Der Krieg war ihm nie wichtig.« Seine Gedanken kehrten zu seinen Zusammentreffen mit dem Hexenmeister in Stormwind zurück. »Er hat etwas anderes gefunden, etwas überaus Mächtiges«, erinnerte er sich dunkel. »Etwas, das ihn so stark machen kann, dass er den Schutz der Horde nicht mehr braucht.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Tharbek. Er sah zur Stadt hin und beobachtete sie. »Wir haben vielleicht nicht genug Krieger, um sie jetzt noch einzunehmen«, überlegte er.
Doomhammer weigerte sich hinzusehen, aber sein Stellvertreter hatte Recht. Die Stadt wehrte sich zäher als erwartet. Der Angriff durch die Streitkräfte der Allianz hatte die Orcs überrascht und ihre Zahl merklich reduziert. Und jetzt konnten sie nicht einmal mehr auf Nachschub aus irgendeiner Richtung hoffen.
Doch das war nicht der einzige schwerwiegende Aspekt. Gul’dans Verrat war schon schlimm genug – aber er hatte auch andere Orcs mitgenommen. Sie stellten ihre eigenen Ziele über die der Horde. Ihr eigenes selbstsüchtiges Verlangen über die Bedürfnisse ihres Volkes.
Eines solchen Vergehens wegen hatte Doomhammer ursprünglich Blackhand getötet. Und er hatte geschworen, die Korruption zu beenden und die Ehre seines Volkes wiederherzustellen.
Folglich durfte dieser Verrat nicht ungesühnt bleiben. Ganz egal, was es kostete. Und wenn er selbst dabei umkam.
»Rend! Maim!«, bellte Doomhammer. Die Blackhand-Brüder hörten ihn und kamen schnell. Wahrscheinlich hatten sie erkannt, dass der Tonfall ihres Kriegshäuptlings keinen Aufschub duldete.
»Führt euren Black-Tooth-Grin-Clan nach Süden«, instruierte sie Doomhammer. Vor seinem geistigen Auge sah er die Karte, die die Kundschafter mit Hilfe der Trolle angefertigt hatten. »Zieht euch vom See zurück und marschiert durch die Hügellande zum Meer. Gul’dan ist geflohen, aber er hat sicherlich nicht alle Boote mitgenommen. Nicht mit nur zwei Clans. Der Rest der Schiffe sollte noch da sein.« Er verzog das Gesicht und zeigte seine Hauer. »Verfolgt die Verräter und vernichtet sie bis auf den letzten Orc. Dann versenkt ihre Leichen im Meer.«
»Aber… diese Stadt!«, protestierte Rend. »Der Krieg!«
»Die Ehre unseres Volkes steht auf dem Spiel!«, blaffte Doomhammer, hob seinen Hammer in Angriffsposition und knurrte die Häuptlinge an. Er provozierte sie förmlich, seine Befehle zu missachten. »Wir dürfen sie nicht ungestraft davonkommen lassen!« Er musterte die beiden Blackhands. »Betrachtet es als Möglichkeit, eure eigene Ehre wiederherzustellen.« Er atmete tief durch und versuchte sich selbst zu beruhigen. »Ich werde meinen Clan langsamer südwärts führen und mich der Allianz in den Weg stellen, damit sie euch nicht folgt. Und gleichzeitig das Land verwüsten. – Wir werden die Route bis zur Stadt offen halten. Wir werden wiederkommen«, versicherte er ihnen, »und beenden, was wir begonnen haben.«
Er sagte dies, obwohl er seine Zweifel daran hatte. Denn dieses Mal hatten sie die Stadt überrascht. Das würde nicht noch einmal passieren.
Die Blackhands nickten, obwohl sie nicht sonderlich glücklich wirkten. »Es sei, wie du befiehlst.«
Maim stimmte zu, und er und sein Bruder erteilten den anderen Kriegern kurz darauf Marschbefehle.
Doomhammer wandte sich wieder Torgus zu, der gewartet hatte. »Sag Zuluhed, er soll alle Drachen zur Großen See schicken«, instruierte er den Reiter. »Flieg so schnell du kannst. Du wirst die Chance bekommen, den Tod deines Clanbruders zu rächen.«
Torgus nickte und grinste düster beim Gedanken an Vergeltung. Dann wandte er sich seinem Drachen zu, wartete, bis Doomhammer zurückgetreten war, und ließ die riesige Kreatur ihre Flügel ausbreiten und abheben.
Doomhammer sah zu, wie er wegflog, und knirschte wieder mit den Zähnen. Seine Hände zitterten vor Wut. Er war so nahe dran gewesen! Noch ein Tag höchstens, und die Stadt wäre sein gewesen!
Jetzt aber war die Möglichkeit vertan. Seine Chancen, diesen Krieg doch noch zu gewinnen, standen schlecht.
Aber die Ehre stand an allererster Stelle.
Teron Gorefiend stand in der Nähe. Doomhammer wandte sich an den Todesritter. »Was ist mit dir, du verfaulender Leichnam?«, wollte Doomhammer von der Kreatur wissen. »Du bist einst Gul’dan gefolgt und hast uns verraten. Gehst du jetzt wieder zu ihm?«
Der untote Krieger sah ihn einen Moment lang mit seinen glühenden Augen an, dann schüttelte er den Kopf. »Gul’dan hat unser Volk verraten«, antwortete Gorefiend. »Wir tun das nicht. Die Horde ist alles, und ihr gebührt unsere Treue – so wie dir, solange du sie anführst.«
Doomhammer nickte brüsk, überrascht von der Antwort der Kreatur. »Dann geh und beschütze unser Volk, während es sich von der Stadt zurückzieht«, befahl er.
Gorefiend gehorchte, ging zu den anderen Todesrittern und ihren untoten Pferden. Tharbek entfernte sich ebenfalls. Innerhalb weniger Momente stand nur noch Doomhammer allein da.
»Gul’dan!«, brüllte er, reckte seinen Hammer und schüttelte ihn gen Himmel. »Du wirst dafür sterben! Ich werde dafür sorgen, dass du für diesen Verrat unendliche Qualen leidest!«
Der Himmel antwortete nicht, aber Doomhammer fühlte sich nach diesem Gefühlsausbruch ein wenig besser. Er senkte seinen Hammer und lenkte seinen Blick auf das Schlachtfeld. Er musste sich zwingen, darüber nachzudenken, wie er seine Krieger am schnellsten nach Süden und den Rest der Horde zum Meer führen konnte.
Gul’dan lehnte sich über den Bug und atmete die Seeluft ein. Er schloss die Augen und brachte seine mystischen Sinne zur Entfaltung. Mit seinem Geist suchte er nach der charakteristischen Aura der Magie.