Er fand sie fast augenblicklich. Sie war so stark, dass er sie wie das metallische Aroma frischen Blutes schmecken konnte, und so machtvoll, dass Haut und Haare davon knisterten.
»Halt!«, rief er über die Schulter, und seine Clansleute hörten auf zu rudern, brachten das Boot zum Stehen. Gul’dan lächelte. »Wir sind da«, verkündete er.
»Aber… hier ist nichts« sagte einer der Orcs, ein Mitglied seines eigenen Sturmrächer-Clans namens Drak’thul. Gul’dan wandte sich ihm zu, öffnete schließlich die Augen und starrte den jungen Hexenmeister an.
»Nein?« Er grinste. »Dann werden wir dir Ketten überhängen und dich auf den Meeresgrund schicken, damit du ihn für uns erforschst. Oder würdest du es vorziehen, hier zu sitzen und darauf zu vertrauen, dass ich weiß, was ich tue?«
Drak’thul zog sich zurück, stammelte eine Entschuldigung. Aber Gul’dan ignorierte ihn bereits wieder. Stattdessen blickte er über das Wasser zum nächsten Boot. Dort stand Cho’gall an der Reling.
»Informiert die anderen«, rief Gul’dan seinem Offizier zu. »Wir werden sofort anfangen. Doomhammer hat vielleicht schon von unserer Abfahrt gehört. Ich will nicht riskieren, dass er uns stört, bevor wir unser Ziel erreichen.«
Der zweiköpfige Oger nickte und wandte sich an das nächste Boot, um die Befehle weiterzuleiten – von wo dann die Botschaft wiederum weitergereicht wurde. Leinen wurden zwischen den Schiffen geworfen, und schon bald wechselten Ogermagier und Orc-Totenbeschwörer zu Gul’dans Schiff über. Manche benutzten die Leinen, um sich daran entlangzuhangeln. Andere schwammen, je nachdem, wie geübt sie im Umgang mit Wasser waren.
»Wir suchen einen alten Tempel, der unter uns liegt«, erklärte Gul’dan, als sich all seine Hexenmeister auf dem Deck versammelt hatten. »Wir könnten jetzt versuchen, dort hinunterzutauchen, aber ich weiß nicht, wie tief das Wasser hier ist. Außerdem ist es da unten dunkel und kalt, und das mag ich nicht.« Er grinste. »Stattdessen werden wir den Boden anheben und den Tempel zu uns bringen.«
»Geht das denn?«, wollte einer der Ogermagier wissen.
»Allerdings«, antwortete Gul’dan. »Vor nicht allzu langer Zeit haben wir Orcs auf unserer Heimatwelt einen Vulkan im Schattenmondtal angehoben. Ich leitete damals den Schattenrat an – und heute werde ich uns entsprechend anleiten.« Er wartete auf weitere Fragen oder Einwände, aber es gab keine, und er nickte zufrieden. Seine neuen Untergebenen waren nicht nur stärker als die alten, sondern auch gehorsamer. Zwei Merkmale, die er aus tiefstem Herzen schätzte.
»Wann fangen wir an?«, fragte Cho’gall schließlich.
»Sofort«, antwortete Gul’dan. »Warum sollen wir auch warten?« Er ging zur Schiffsreling, seine Assistenten stellten sich rechts und links von ihm auf. Dann schloss er die Augen und begann nach der Kraft zu tasten, die er tief unter sich fühlen konnte. Sie war leicht zu erfassen. Als er sie fest im Griff hatte, begann Gul’dan zu zerren. Magisch zog er die Energie und ihre Quelle zu sich. Zur selben Zeit streckte er seinen Geist aus und weitete seinen Zauber auch auf die Umgebung aus, die er ebenso anhob. Der Himmel verdüsterte sich, und die See wurde rau.
»Ich habe es«, teilte er seinen Helfern durch zusammengebissene Zähne mit. »Vereint euch mit meiner Magie, und ihr werdet es selbst spüren. Gebt eure Energien dazu und hebt es mit mir. Jetzt!«
Er spürte den Ruck, als zuerst Cho’gall und dann die anderen ihre Kraft mit seiner vereinten. Ein tiefrotes Leuchten erfüllte den Himmel, es donnerte und begann zu regnen. Schwere Wellen warfen das Boot hin und her. Das gewaltige Gewicht wurde leichter. Es war zwar immer noch schwer, aber diesmal erträglich, nicht länger schmerzhaft. Und mit jedem Zug wurde die Magie stärker und sein Griff fester. Die Natur widersetzte sich, doch er hielt stand, gab nicht nach.
Stundenlang standen sie so da, unbeweglich in den Augen der versammelten Krieger, aber versunken im Kampf gegen die Kräfte des Ozeans. Wasser durchnässte sie von oben bis unten. Donner ließ sie taub werden. Blitze blendeten sie.
Die Boote waren zusammengebunden, und die Krieger griffen nach ihren Rudern, um nicht zu Fall gebracht zu werden. Einige schauten zu Gul’dan und den anderen Hexern und warteten auf Anweisungen. Aber keiner bewegte sich, auch wenn das Schiff besorgniserregend schlingerte.
Dann stieg ein kleines Stück vom vordersten Schiff entfernt eine Wolke auf und erfüllte die Luft mit Feuer, Asche und Rauch. Durch die brennende Luft konnten sie erkennen, dass etwas durch das Wasser schlug wie ein Kükenschnabel, der die Schale seines Eis durchdrang. Das Etwas schien aus Fels zu bestehen, und die Krieger erlebten starr vor Staunen mit, wie die Landmasse größer wurde, sich aus den Wellen erhob, und wie Wasser und Lava abtropften. Aus dem kleinen Fels wurde ein größeres Fragment, das Fragment verwandelte sich in ein kleines Plateau, das Plateau wurde zu einem breiten Riff, und das Riff ging über in eine steinige Ebene.
Aber es stiegen noch weitere Formen auf und erhoben sich aus der aufgerührten See unweit der ersten Landmasse.
Alle Teile waren miteinander verbunden, und als sich die See zurückzog, konnten die Orcs eine komplette Insel sehen, die immer noch Feuer, Dreck und Dampf ausspie. Eine zweite, kleinere Insel folgte – dann eine dritte und vierte.
Am Ende lichtete sich der Himmel. Seine Farbe wandelte sich vom wirbelnden Rot zu bleiernem Grau. Die Wellen schlugen nun bereits nicht mehr so hoch.
Gul’dan öffnete die Augen. Er schwankte leicht und lehnte sich an die Reling, wie auch ein paar seiner Hexer es taten.
Er blickte über die neue Inselkette, die immer noch dampfte, immer noch knirschte und knarzte, bis sich ihr neues Aussehen gefestigt hatte.
Er lächelte. »Bald«, sagte er leise, während er das Land betrachtete und mit seinem Geist erkundete. »Bald werde ich uns zu dem Tempel führen, in dem der große Lohn all unserer Mühen auf uns wartet…«
»Ich kann sie sehen«, rief ein Krieger. »Da sind sie, bei den Inseln dort!«
Rend Blackhand, einer der beiden Häuptlinge des Black-Tooth-Grin-Clans, schaute in die angezeigte Richtung. Sie hatten miterlebt, wie See und Luft sich wie verrückt gebärdeten. Schließlich hatten sie den schmalen Landstreifen im Westen und die dunklen Umrisse darum herum entdeckt.
»Gut«, sagte er, nickte und ließ seine Hände auf dem Stiel seiner Axt ruhen. »Erhöhe die Geschwindigkeit«, wies er den Trommler an. »Ich will sie einholen, bevor sie in ein Versteck verschwinden.«
Auf einem der anderen Boote sah er seinen Bruder Maim mit dessen Trommler sprechen. Gewiss erteilte er ihm denselben Befehl.
»Was machen wir, wenn sie Magie gegen uns einsetzen?«, fragte einer der jüngeren Krieger. Mehrere andere nickten zustimmend.
Davor hatten sie die meiste Angst, noch mehr, als von der Allianz gefangen genommen oder von einem Drachen gefressen zu werden.
Rend konnte ihnen ihre Bedenken nicht verübeln. Er war auch nicht begeistert von der Idee, Gul’dan und seine Getreuen zu bekämpfen. Doomhammer hatte ihnen einen Befehl gegeben, und der Ruf des Namens Blackhand stand auf dem Spiel.
Rend wollte seine Anordnungen befolgen – oder bei ihrer Ausführung sterben.
»Seine Magie ist mächtig«, gab er zu, »Gul’dan allein könnte leicht drei oder vier von uns binnen Minuten töten. Aber er braucht diese Minuten. Und er benötigt physischen Kontakt oder muss uns zumindest nahe sein. Oder er muss etwas haben, was aus dem Besitz des Opfers stammt.« Er grinste. »Hat irgendjemand dem Hexer einen Wasserschlauch, ein paar Handschuhe oder einen Wetzstein geliehen?« Das brachte ihm ein paar Lacher ein, ganz wie er es gehofft hatte. »Dann bleibt den Hexenmeistern aus dem Weg, bis wir da sind. Lasst sie nicht zu nah an euch heran und attackiert sie, bevor sie ihre Zauber wirken können.« Zur Bekräftigung seiner Worte fuhr er mit der Hand über die Axt. »Trotz ihrer Macht sind sie doch immer noch Orcs und können bluten und sterben. Es ist nichts anderes, als wollte man daheim einen Oger jagen. Jeder Einzelne mag stärker sein als einer oder zwei von uns. Aber wir können sie überwältigen, wenn wir in Gruppen angreifen.« Seine Krieger nickten. Sie verstanden die Idee dahinter, und eigentlich war Magie auch nur eine Waffe, vor der man keine übertriebene Angst haben musste.