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Als sie weiter vordrangen, wurden die Schäden geringer. Bald erkannte Gul’dan filigrane Schnitzereien an den Säulen und Pfeilern. Feine Gravuren liefen entlang der Mauern, genauso wie sich schöne Mosaike über die Böden und Decken erstreckten. Die Farben war natürlich schon lange vom Salzwasser zerstört worden, aber anhand der Dekorationen konnte man erahnen, wie prachtvoll das Gebäude einst gewesen war. Ein wahrhaft imposanter Tempel, der jedermann beeindruckt haben musste, selbst den desinteressiertesten Besucher.

Gul’dan hatte dafür jedoch keinen Blick übrig. Er wollte nur eines, und das war die Magie, die in der Kammer auf der untersten Ebene auf ihn wartete.

Als er dort schließlich ankam, blieb er einen Moment lang stehen, um den Augenblick auszukosten.

»So, Sargeras«, flüsterte er, »jetzt werde ich für mich beanspruchen, was von deiner Macht noch übrig ist. Und ich werde diese erbärmliche Welt in die Knie zwingen!«

Er konnte die hier schlummernde Energie schon fast fühlen. Es war genug, um seine Sinne anzuregen und seinen Geist vor Erwartung beben zu lassen.

Die Lichtkugel war, als er sie beschworen hatte, nicht größer als sein Kopf gewesen. Inzwischen aber war sie doppelt so groß und von einem wilden grünen Feuer erfüllt. Er konnte nicht unverwandt in sie hineinsehen. Sie war so grell und heiß, dass er sie in der Mitte der Halle halten musste, um zu verhindern, dass sie sich durch die Wand schmolz.

Und er war noch weit von der Quelle entfernt.

Zu was würde er erst fähig sein, wenn er jene Macht berührte… und sie völlig in sich aufsog?

In solche Gedanken versunken schickte Gul’dan die anderen zur anderen Seite des Raumes.

Sie gehorchten.

Dann zog er am Steinhebel einer massiven schwarzen Eisentür. Es war die einzige Stelle im ganzen Tempel, die völlig schmucklos war. Und diese Schmucklosigkeit verlieh ihr eine Eleganz und Würde, die all die Statuen und Schnitzereien nicht zu erzeugen vermocht hatten.

Dieser Ort war einfach zu wichtig für Firlefanz. Begierig zu sehen, was sich hinter der Tür befand, zog Gul’dan mit aller Kraft am Hebel.

Er merkte, dass er nach den vielen Jahrhunderten ein wenig fest saß, und er spürte das Prickeln von Magie.

Nichts Gefährliches, eher ein Hinweis darauf, dass Magie gewirkt wurde. Aber er konnte den mächtigen Spruch erahnen, der damit verbunden war.

Der Anfangszauber jedoch, dieser Vorbote von etwas Größerem, glitt ohne Schaden anzurichten durch ihn hindurch, und der eigentliche Zauber wurde gar nicht erst ausgelöst.

So, wie Sargeras es ihm versichert hatte.

Aegwynn hatte die Gruft gegen das Eindringen von Menschen, Elfen, Zwergen und selbst Gnomen gesichert. Kurz gesagt: gegen jedes Volk. Zumindest gegen jedes, das auf dieser Welt ansässig war.

Aber er war ein Orc. Und Aegwynn hatte niemals etwas von Draenor gehört. Folglich schloss ihr Spruch ihn nicht ein, und deshalb war er in der Lage, den Hebel ganz nach unten zu drücken.

Ein lautes Knirschen ertönte. Dann gab es einen heftigen Ruck, und die Tür schwang weit auf.

Jenseits des Durchgangs lag eine Finsternis, die selbst Gul’dans Licht nicht aufzuheben vermochte. Eine Finsternis, so kalt, dass seine Finger binnen einer Sekunde taub wurden und sein Atem sich in Eiskristalle verwandelte.

Und langsam nahm die Dunkelheit Form an, wurde zu einzelnen, kriechenden Schemen. Sich krümmende Schatten mit Augen, die dunkler glühten als der Rest, so dunkel, dass es weh tat, sie nur anzusehen.

Und dann lächelten diese dunklen Schemen, als sie die Grufttür erreichten und ihr uraltes Gefängnis verließen. Sie kamen auf den wie versteinert dastehenden Gul’dan und seine Hexenmeister zu.

Dämonen! Dämonen, wie er sie noch nie zuvor erblickt hatte!

Gul’dan hatte geglaubt, in der Vergangenheit schon wirklich schrecklichen Kreaturen begegnet zu sein. Aber diese hier machten alle anderen vergessen, ließen sie im Vergleich wie Schoßtierchen erscheinen.

Nein!, schrie Gul’dans Geist auf. Er war immer noch unfähig, seinen Mund zu bewegen, um die Worte laut auszusprechen. So war das nicht vereinbart! Sargeras hat es versprochen.

Er versuchte, Magie zu beschwören, die Hände zu heben, zu rennen… irgendetwas zu tun. Aber der schiere Anblick der Wesen hatte ihn paralysiert. Sowohl den Körper als auch die Seele.

Und er, der sich für den Meister gehalten hatte, konnte nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen und zu erschaudern, als sie ihm entgegen kamen. Zuzusehen, wie ihre schattenhaften Klauen vorschossen… um sein Gesicht zu liebkosen.

Die erste Berührung reichte aus, um die Erstarrung zu lösen, und Gul’dan merkte, wie er losrannte, um diesem Albtraumort zu entkommen.

Drak’thul und die anderen hatten direkt hinter ihm gestanden. Jetzt waren sie nirgendwo mehr zu sehen, mussten schon geflohen sein.

Schreie hallten von der Gruft herüber, als Gul’dan Korridor um Korridor durchquerte. Sein Gesicht brannte, wo die Klauen ihn berührt hatten. Und als er eine Hand an seine Wange hob, erkannte er, dass er dort geschnitten worden war, und zwar sehr tief.

»Verdammt seist du, Sargeras!«, fluchte er, als er zwischen den Säulen und Pfeilern entlang stolperte, durch Räume und Alkoven hetzte. »So werde ich mich nicht geschlagen geben! Ich bin Gul’dan. Ich bin die Inkarnation der Finsternis! Es kann noch nicht so… enden!«

Er machte eine Pause, um zu Atem zu kommen und zu lauschen. Nichts. Die Schreie hatten aufgehört. Verdammte kleingeistige Schwächlinge, dachte er und stellte sich die Sturmrächer vor, die ihm hier hinunter gefolgt waren.

»Sie sind wahrscheinlich alle schon tot!« Seine Wange pochte, und er presste die Hand dagegen. Er versuchte, die Blutung zu stillen. Ihm wurde schwindelig, und seine Glieder fühlten sich ganz schwach an. »Ich muss trotzdem weitermachen«, knurrte er grimmig. »Meine Kraft allein sollte ausreichen, um…«

Gul’dan hörte auf zu sprechen, um besser lauschen zu können. Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Was war das für ein Geräusch? Es war schwach und wiederholte sich, klang grausam und… amüsiert zugleich…

»Dieses Gelächter… bist du das, Sargeras?«, fragte er laut. »Willst du mich verspotten? Nun, wir werden sehen, wer zuletzt lacht, Dämon. Wenn ich erst deine brennenden Augen für mich beanspruche!«

Er bog um eine Ecke… und stand in einem großen Raum, dessen Wände überraschenderweise weiß waren. Von etwas, das er nicht benennen konnte inspiriert, ging Gul’dan zur nächstgelegenen Wand und begann, etwas darauf zu schreiben. Er kritzelte eine Beschreibung der Gruft und ihrer Wächter mit seinem eigenen Blut an die Wand. Mehrere Male unterbrach er sich. Seine Hand war zu schwer, um sie zu erheben.

»Überfallen… von den Wächtern«, schrieb er schwach. »Ich… sterbe.«

Er wusste, dass es stimmte und kämpfte darum, seine Niederschrift zu beenden, bevor er tot war. Aber hinter ihm konnte er bereits dasselbe trockene, hungrige Geräusch ausmachen, das er auch schon in der Gruft gehört hatte.

Sie kamen, um ihn zu holen.

»Wenn meine Diener mich nicht verlassen hätten«, schrieb er, und seine Augen waren kaum noch in der Lage, sich zu konzentrieren, seine Kehle war zu eng geworden, um überhaupt noch Worte zu formen.

Doch nun erkannte er, dass es nicht ihr Fehler gewesen war. Es war seiner gewesen. Die ganze Zeit über hatte er geglaubt, alles unter Kontrolle zu haben. Doch in Wirklichkeit war er nicht mehr als ein Tölpel gewesen, ein Werkzeug, ein Sklave. Seine gesamte Existenz war nur Schein gewesen, ein Witz. Und bald würde es vorbei sein.

Ich war ein solcher Narr, dachte er und hörte zu schreiben auf. Mühsam wandte er sich um, wollte mit seinen letzten Kraftreserven davonlaufen… und wusste doch, dass es dafür längst zu spät war.