Dann erwischten ihn die Klauen – und Gul’dan gewann lange genug seine Stimme zurück, um lauthals und verzweifelt aufzubrüllen.
Rend streckte seinen Arm aus und hinderte Maim daran, weiterzugehen. »Nein«, sagte er leise. Blut quoll aus der primitiven Binde, die er aus dem Gürtel eines gefallenen Kriegers gemacht hatte.
»Wir müssen hinter Gul’dan her«, sagte Maim, obwohl er zahlreiche Wunden hatte und die primitiven Verbände, die er um ein Bein und die Schulter trug, bereits von Blut durchtränkt waren.
»Dafür gibt es keinen Grund mehr«, versicherte ihm sein Bruder. »Diese… Kreaturen haben die Aufgabe für uns erledigt.«
Etwas Erstaunliches, nein Ungeheuerliches war vom Gebäude vor ihnen aufgestiegen, etwas mit vielen Gliedern und zu vielen Gelenken… und viel zu vielen Zähnen. Das Ungetüm war von anderen, die ebenso waren wie es, begleitet worden, und gemeinsam hatten sie die Orcs ohne Pause attackiert. Sie zerrissen sie wie vor Hunger wahnsinnig gewordene Tiere, die sich tobsüchtig auf ihre Beute stürzten.
Etliche Orcs waren vom bloßen Anblick dieser schrecklichen Kreaturen zu Salzsäulen erstarrt. Aber andere hatten gekämpft und schließlich auch noch die letzte dieser Kreaturen besiegt. Obwohl sie zuvor ein Dutzend Orcs erschlagen hatte.
Die Ungetüme waren aus dem Gebäude gekommen. Aber nur ein Krieger, Rend, hatte ein Gespür für Magie. Er konnte die Zauberei in dem merkwürdigen alten Gebäude vor ihnen riechen.
Diese Mauern waren von Hass erfüllt, ein Hass, der übermächtig strahlte und gegen alles und jeden gerichtet schien.
Dann hatte etwas die Orcs zu Fall gebracht, eine gewaltige Erschütterung, ein Beben begleitet von einem ohrenbetäubenden Geräusch, das aus Richtung des Eingangs kam.
Ein dunkles Rumpeln und Rumoren, wie Gelächter, war von tief unten zu ihnen heraufgedrungen. Luft kam aus dem Gebäude, stinkend und faul, und noch etwas war darin, etwas, das Rend die Nackenhärchen sträubte. Er sah nichts, aber war sicher, dass er etwas Böses gespürte hatte, das von diesem merkwürdigen Ort stammte. Das Rumpeln hielt an. Risse wurden in den Steinen unter ihren Füßen sichtbar. Die ganze Insel fiel auseinander.
»Gul’dan stellt keine Bedrohung mehr dar«, sagte Rend, als er wieder auf die Beine kam.
Und irgendwie wusste er, dass das stimmte. Was auch immer Gul’dan zu finden gehofft hatte, hier hatte nur sein Tod auf ihn gewartet.
Rend hoffte nur, dass Gul’dans Sterben langsam und qualvoll vonstatten gegangen war. Er war fast sicher, dass dem so gewesen war.
»Was machen wir dann jetzt?«, fragte Maim, als sie sich abwandten und den Tempel hinter sich ließen.
»Wir kehren zu Doomhammer zurück«, sagte Rend. »Wir haben immer noch einen Krieg zu führen, und jetzt brauchen wir uns wenigstens keine Gedanken mehr um Verräter zu machen, die unsere Stärke von innen heraus zersetzen.«
Einträchtig begaben sich die Brüder zum Strand, wo die Boote auf sie warteten.
18
»Sind wir bereit?«
»Bereit, Sire.«
Daelin Proudmoore nickte und blickte weiter geradeaus. »Gut. Gebt das Signal, in Position zu gehen. Wir greifen an, sobald wir in Reichweite sind.«
»Ja, Sire.« Der Quartiermeister salutierte und läutete dann die große Messingglocke neben dem Steuerrad.
Proudmoore hörte, wie die Füße seiner Leute über das Deck trommelten, Seile gerefft wurden und die Männer auf seinem Flaggschiff eiligst ihre Positionen einnahmen.
Er lächelte. Er liebte Ordnung und Präzision, und seine Mannschaft wusste das. Er hatte jeden seiner Leute handverlesen. Nie war er mit besseren Männern gesegelt. Und auch wenn er das niemals offen zugegeben hätte, wusste die Mannschaft, dass er große Stücke auf sie hielt.
Proudmoore richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Meer. Er beobachtete die Wellen und den Himmel. Er hob sein Fernrohr und suchte nach den dunklen Umrissen, die er bereits gesehen hatte.
Da! Die Schiffe waren jetzt viel näher, und er konnte einzelne Umrisse voneinander unterscheiden, nicht mehr länger nur die Mastspitzen.
Der Ausguck hatte von seinem Krähennest aus eine noch viel bessere Sicht. In spätestens zehn Minuten würden die Umrisse sich in Schiffe verwandeln.
Orc-Schiffe! Die Flotte der Horde, um genauer zu sein.
Proudmoore schlug mit der Faust auf die Hartholzreling. Es war das einzige sichtbare Zeichen seiner Erregung.
Endlich! Davon hatte er seit Beginn des Krieges geträumt. Er war begeistert gewesen, als er die Nachricht von Turalyon erhalten hatte, dass die Horde nach Southshore segele. Als der Ausguck dann die Orc-Schiffe auf der Großen See erspäht hatte, versuchte er seine Aufregung zu unterdrücken.
Der Ausguck hatte ihn auch darüber informiert, dass die Orcs zwei verschiedene Gruppen bildeten. Die erste hatte schnellstmöglich das offene Meer angesteuert, während die zweite sich noch mühte, aufzuholen. Es war schwer abzuschätzen, ob die beiden einfach schlecht koordiniert waren, oder ob die zweite Gruppe die erste verfolgte.
Konnte es so etwas wie Orc-Rebellen geben? Proudmoore wusste es nicht, und es war ihm auch egal. Es zählte nicht, wohin die Grünhäute gefahren waren oder was sie vorhatten. Ihn interessierte lediglich, dass die Orc-Schiffe zurückkehrten – zurück nach Lordaeron.
Und jetzt waren sie endlich in Reichweite.
Proudmoore konnte die Schiffe mit bloßem Auge erkennen. Sie bewegten sich sehr schnell, obwohl sie keine Segel hatten. Er hatte bislang nur wenige Orc-Schiffe aus der Nähe gesehen. Um dieses Tempo erreichen zu können, mussten die Orcs völlig synchron rudern. Das hohe Tempo bedeutete aber auch, dass sie an Manövrierbarkeit einbüßten. Seine eigenen Schiffe konnten die Orcs leicht umkreisen…
Er wollte vermeiden, dass die Orcs sie zu früh bemerkten. Seeschlachten waren ein riskantes Unterfangen. Proudmoore wollte die Orc-Flotte so schnell und effizient wie möglich versenken.
Nun also harrte er hinter der Insel Wappenfall aus, nordöstlich von seinem geliebten Kul’Thiras. Seine gesamte Flotte war bereit und wartete darauf, dass die Gegner in Reichweite kamen.
Und das passierte gerade.
»Feuer!«, rief Proudmoore, als das zehnte Orc-Schiff ihre Position passiert hatte. Die Grünhäute schienen nicht gesehen zu haben, dass er mit seiner Flotte zwischen den beiden Inseln wartete. Die Segel waren noch aufgerollt und die Laternen zugehängt.
Die erste Salve erwischte das anvisierte Schiff. Die Kugeln trafen es genau in der Mitte, wodurch es auseinanderbrach und schließlich sank.
»Segel setzen, volle Kraft voraus!«, befahl Proudmoore. Das Schiff schoss förmlich über das Wasser, als der Wind sich in den Segeln fing. Er wusste, dass seine Kanoniere bereits nachluden, und weitere Seeleute standen mit Armbrüsten oder kleinen Fässern mit Schwarzpulver bereit.
»Zielt auf das nächste Schiff in der Reihe«, instruierte Proudmoore sie. Die Besatzung bestätigte und schleuderte die Fässer auf das nächste Orc-Boot. Dann zündeten sie ölgetränkte Lappen an, die um die Bolzen der Armbrustschützen gewickelt waren und feuerten sie ab. Eines der Fässer explodierte und streute Feuer über das Deck… dann ging ein zweites hoch. Das Schiff stand schnell in Flammen, seine teergedeckten Planken brannten lichterloh.
Dann war Proudmoores Schiff an der Reihe der Orc-Schiffe vorbei und drehte bei, um von der anderen Seite anzugreifen.
Es lief alles so gut, wie Proudmoore es erwartet hatte. Die Orcs waren keine Seeleute und wussten nur wenig über Segeln oder Seekriegsführung. Aber sie waren unerschrockene Krieger, und es konnte gefährlich werden, wenn sie in Enterreichweite kamen. Aber Proudmoore hatte seine Kapitäne instruiert, sich von ihnen fernzuhalten. Mehrere seiner Schiffe waren ihm durch die gegnerische Flotte hindurch gefolgt und bedrohten die Fahrzeuge der Grünhäute nun von der gegenüberliegenden Seite. Eine zweite Gruppe war nahe bei Wappenfall geblieben und schlug von dort aus zu. Ein dritter Verband wiederum hatte sich nach Norden gewandt und die kämpfenden Schiffe passiert. Jetzt bildeten sie eine Blockade für diejenigen Orc-Boote, die zu fliehen versuchten. Ein vierter Pulk schließlich hatte sich südlich gehalten, wodurch er die Orc-Schiffe umzingeln konnte.