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Jacobs Mutter lag begraben auf dem Friedhof von Elbstedt. Als Jacob von seiner Wanderschaft zurückgekehrt war, um als Zimmermann in das Geschäft seines Vaters Heinrich Adler einzusteigen, war sie schon tot gewesen. Gestorben aus Gram über die Machenschaften der Arnings, durch die Jacobs Vater um Haus und Besitz gekommen war.

Sein Vater und seine Geschwister waren verschwunden. Vermutlich nach Amerika ausgewandert. Jacob wollte sie in Texas suchen, auf der Plantage seines Onkels Nathan Berger. So weit entfernt von hier.

Abner Zachary, der den Treck nach Oregon ins Gelobte Land bringen wollte, lag unter einem Steinhaufen begraben am Wegesrand.

Genauso wie Daniel Andersen.

Wie die vielen toten Männer, Frauen und Kinder im Geistercanyon.

Rings um Jacob waren nur Tod, Verlust und Zerstörung.

Er fühlte sich einsam, müde.

Und er fror.

Er zog die Wolljacke fester um sich, aber die Kälte blieb. Sie kam von innen.

*

Immer unwegsamer wurde das Gelände, durch das die Wagen rumpelten. Von einem ausgetretenen Weg konnte man bald nicht mehr sprechen.

Von einem ausgefahrenen sowieso nicht. Hier lang schienen noch niemals Wagen gefahren zu sein.

Kein Auswanderer, der unterwegs nach Oregon war, wäre auf den Gedanken verfallen, seine Zugtiere über den felsgespickten Untergrund zu lenken. Zusätzlich erschwert wurde das Vorankommen der Wagen durch große dicke Baumwurzeln, die immer wieder aus dem Boden ragten.

Wegen der Schneedecke waren die Felsen und Baumwurzeln meistens unsichtbar, tückische Fallen für die Prärieschoner. Damit nicht ein Rad oder gar eine Achse brach, rollten die Wagen mit äußerster Langsamkeit durch die unbekannte Wildnis. So langsam war der Treck nur damals kurz nach dem Aufbruch vorangekommen, als der wochenlange Regen die Prärie in ein riesiges Schlammloch verwandelt hatte, in dem die Wagen immer wieder stecken geblieben waren.

Rechts und links des Trecks türmten sich bizarre Felsformationen auf, schneebedeckt wie die Bäume, die immer spärlicher in Erscheinung traten, je weiter der Treck vorankam.

Jacob fragte sich wieder und wieder, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er den Treck Mondauge anvertraute. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, in dieser Felsödnis auf ein fruchtbares Tal zu stoßen. Denn fruchtbar mußte das geheimnisvolle Tal der heißen Wasser sein, wenn es einen ganzen Stamm ernährte.

War Jacob einer Lügengeschichte aufgesessen? Waren Mondauge und der alte Daniel Anderson zwei geistesverwirrte Sonderlinge, die ihr Dasein mehr schlecht als recht in den Bergen fristeten und vorbeikommende Trecks ins Verhängnis lockten?

Jacob sagte sich immer wieder, daß Daniel Anderson das seiner Tochter niemals angetan hätte. Aber hatte sich der alte Mann nicht von seiner Familie abgewendet? Was war, wenn nicht nur er, sondern auch Mondauge aus der seltsamen Quelle getrunken hatte, deren Wasser den Geist verwirrte?

Auch die anderen Auswanderer stellten sich diese und ähnliche Fragen. Jacob erkannte es an der Art, wie sie ihre Köpfe zusammensteckten und immer wieder zu ihm und Mondauge schauten. Wenn Jacob während der kurzen Mittagsrast in die Nähe der anderen kam, erstarb ihr Getuschel, aber ihre zweifelnden Blicke hatten Bestand.

Als sich gegen Abend vor dem Treck ein gigantisches Felsmassiv erhob, machten die Menschen ihrem Zweifel und ihrem Unmut Luft. Mehrere Männer zu Pferd und zu Fuß hielten auf den Treck-Captain zu, angeführt von Toby Cullen.

»Was sagen Sie dazu, Captain?« fragte der Barbier barsch und zeigte auf die Felswand, die dem Treck den Weg versperrte. »Hier ist der Weg zu Ende. Wo ist jetzt Ihr geheimnisvolles Tal? Ich sehe nur Felsen und Schnee. Der Indianer hat uns in eine Sackgasse geführt. Wenn seine Leute uns überfallen wollen, sind wir auf drei Seiten von Felsen eingesperrt. Und bis wir in dieser Enge unsere Wagen zu einer Verteidigungsstellung zusammengefahren haben, haben sie uns längst niedergemetzelt!«

»Ich weiß auch nicht, was das bedeuten soll«, sagte Jacob, dessen Blick wie gebannt an dem Felsmassiv hing, zu dem sie von dem Indianer geführt worden waren. »Ich werde Mondauge fragen.«

»Tun Sie das!« schnaubte Cullen. »Aber wir kommen mit Ihnen!«

Seelenruhig stand der Indianer im Schnee und erwartete die Auswanderer. Er schien sich keiner Schuld bewußt zu sein. In seinem offenen Blick war keine Spur von Arglist oder Feindseligkeit zu entdecken.

»Was soll das, Mondauge?« fuhr ihn der rotbärtige Barbier an. »Wohin führst du uns?«

»Ins Tal der heißen Wasser«, antwortete der Indianer ungerührt.

»Wo liegt dieses Tal?«

Mondauge deutete auf das Felsmassiv.

»Hinter dem Berg.«

»Ach ja«, lachte Cullen bitter. »Und wie sollen unsere Wagen über den Berg kommen? Sollen wir sie vielleicht tragen?«

Mondauge schüttelte den Kopf.

»Nicht tragen. Fahren!«

»Fahren? Über den steilen Berg? Wie denn?«

»Nicht über den Berg, sondern durch den Berg. Durch ihn führt der Weg ins Tal der heißen Wasser.«

»Das klingt logisch«, sagte Jacob. »Durch diesen Berg, der unpassierbar aussieht, bleibt das Tal der heißen Wasser vor ungebetenen Gästen verschont.«

»Der Adler spricht wahr«, bestätigte Mondauge. »Nur selten findet jemand den Weg durch den Berg.« Seine Stimme wurde leiser, und sein Blick verklärte sich. »Leider hat Einauge ihn gefunden.«

»Dann zeig uns diesen Weg!« verlangte Cullen. »Ich glaube erst daran, wenn ich ihn sehe. Führe uns ins Tal der heißen Wasser!«

»Der Weg ist schwierig«, erwiderte der Indianer. »Es wird besser sein, ihn im Licht der Sonne zurückzulegen.«

»Im Berg scheint doch keine Sonne!« meinte der Barbier mit skeptisch gerunzelter Stirn.

»Die größte Gefahr lauert hinter dem Berg. In der Finsternis wird es für die Wagen sehr schwer sein.«

»Wenn wir erst morgen ins Tal fahren, kann es für Martin zu spät sein«, sagte Jacob und blickte Mondauge fast flehend an. »Besteht keine Möglichkeit für uns, bei Nacht ins Tal zu kommen?«

»Doch. Wenn die Leute des Adlers vorsichtig sind.«

»Ich bin dafür, es zu versuchen«, sagte Jacob mit einem ausgedehnten Blick in die Runde. »Wer noch?«

Nach und nach stimmten ihm alle Männer zu.

Auch Cullen rief: »Yeah, versuchen wir es! Ich will endlich wissen, woran ich bin!«

*

Als die Sonne hinter den Berggipfeln der Rocky Mountains versank, war das für die Auswanderer ohne Bedeutung. Sie tauchten ein in eine Welt, in der es immer Nacht war. In eine unheimliche Welt, die scheinbar nur aus Stein und Stille bestand. Zurück ließen sie den brausenden Wind, der wieder aufgefrischt hatte und dichte Schneemassen vor sich herwirbelte.

Ein Wagen nach dem anderen verschwand in dem höhlenartigen Schlund, zu dem Mondauge sie geführt hatte. Nur daß es nach Auskunft des Indianers keine Höhle war, sondern der Beginn eines natürlichen Tunnels, der direkt zum Tal der heißen Wasser führte.

Das einzige Licht in dieser unterirdischen Welt war der flackernde Schein der Fackeln, die von den Auswanderern auf Mondauges Geheiß vorbereitet worden waren. Er hatte ihnen aufgetragen, eine Menge Fackeln herzustellen. Der Weg durch den Berg würde lange dauern.

Reiter an der Spitze und am Ende des Trecks hielten Fackeln in der Hand. Neben jedem Wagen ging auf jeder Seite ein Mann oder eine Frau mit einer Fackel. Das war auch nötig, denn zuweilen lagen scharfkantige Felsblöcke auf dem Boden. Ein Wagen, der gegen einen solchen Felsen fuhr, hätte leicht sein Rad verlieren können.

Die Menschen schwiegen die meiste Zeit.

Diese fremde Welt hatte etwas Erhabenes, Ehrfurchtgebietendes an sich. Die Auswanderer kamen sich klein und bedeutungslos vor gegenüber Kräften, die solches zu schaffen vermochten.