Zwei Milchkühe stürzten von der Brücke und wurden binnen Sekunden von einem heißen Wasserloch verschluckt. Mit bleichen Gesichtern sahen die Menschen zu und dachten daran, daß jeder von ihnen an der Stelle der unglücklichen Tiere hätte sein können.
So gesehen, hatte der gefährliche Weg über die Steinbrücke dem Treck nur ein kleines Opfer abverlangt. Der Feuergott hatte Milde walten lassen.
*
An ihrem unteren Ende dehnte sich die Steinbrücke auf fast das Dreifache ihrer durchschnittlichen Breite aus und ging nahtlos in den an dieser Stelle felsigen Boden über.
Jacob hätte sich gewünscht, die Brücke wäre überall so breit gewesen. Das hätte ihnen der Verlust der Kühe und den Beinahe-Verlust von George Kelley erspart. Außerdem wäre der Treck viel schneller vorangekommen.
Für Martin war ein schnelles Vorankommen lebenswichtig. Sein Atem und sein Puls waren kaum noch festzustellen. Deshalb trieb der Captain seinen Treck zur Eile an, obgleich sich die Auswanderer nach der überstandenen Strapaze gern eine Ruhepause gegönnt hätten.
»Wie weit ist es noch, Mondauge?« fragte er den Indianer.
»Das Tal der heißen Wasser ist groß. Aber wenn sich die Weißen und Schwarzen beeilen, werden sie die Häuser von Mondauges Volk noch vor Sonnenaufgang erreichen.«
Der Treck setzte seinen Weg fort und ließ die Brücke mit den unter ihr zischenden und blubbernden Wasserlöchern und Geysiren hinter sich. Das rötliche Leuchten, das von diesem seltsamen Gebiet ausstrahlte, wurde blasser und verschwand schließlich ganz, bis das einzige Licht die fahle, schwache Helligkeit der hinter einer dicken Wolkenschicht verborgenen Gestirne war.
Stunde um Stunde rollten die Wagen durch das Tal, der Erschöpfung und der Müdigkeit von Mensch und Tier zum Trotz. Den Weg säumten erst wild zerklüftete Felsformationen. Aber je näher die Auswanderer ihrem Ziel, der Wohnstätte von Mondauges Volk, kamen, desto fruchtbarer wirkte das Land, soweit die Schleier der Nacht es ihnen enthüllten. Wälder, Wiesen und dann sogar planmäßig angelegte Felder wechselten einander ab. Immer wieder kam ein breiter Fluß in Sicht, an dessen rechtem Ufer Mondauge den Treck entlangführte. Das Gewässer nahm unter der Steinbrücke seinen Anfang und führte anscheinend durch das gesamte Tal.
Und plötzlich tauchten sie rechts und links der Wagen auf: wie aus dem Nichts erscheinende Geister. Dunkle Gesichter und sehnige Körper, häufig in Felle gekleidet. Gespannte Gesichter mit mißtrauisch blickenden Augen. Speer- und Pfeilspitzen, die auf die Auswanderer gerichtet waren.
Die Männer des Trecks reagierten sofort. Revolver wurden aus den Holstern, Gewehre aus den Scabbards gezogen. Das Klicken von zurückgezogenen Hähnen erfüllte die Nacht. Das Knarren der mehr als zwanzig Wagen erstarb, als die Kolonne wie auf ein geheimes Zeichen anhielt. Nur das Schnauben der Tiere und das Scharren ihrer Hufe dauerten an.
Auch Jacobs Hand hatte sich in einer instinktiven Reaktion zu dem Scabbard mit seinem Sharps-Karabiner bewegt. Aber er bezähmte sich rechtzeitig, nahm die Hand zurück zum Zügel und blickte Mondauge abwartend an. Der Treck-Captain wollte das mühsam aufgebaute Vertrauen nicht zerstören.
»Die Krieger des Adlers mögen ihre Waffen senken«, sagte Mondauge ruhig. »Von meinem Volk droht ihnen keine Gefahr.«
»Das glaube ich Mondauge«, erwiderte Jacob. »Aber solange Mondauges Krieger ihre Waffen auf meine Leute richten, entsprechen die Taten nicht Mondauges Worten.«
Mondauge blickte erst Jacob, dann die Indianer an. Er rief einen kurzen Befehl in die Nacht, und seine Krieger senkten ihre Waffen.
»Uns droht keine Gefahr!« rief Jacob, der sich im Sattel umgedreht hatte und an den Wagen entlangsah. »Steckt die Waffen weg, Männer!«
Die meisten Auswanderer befolgten seinen Befehl, wenn auch zögernd. Ein paar Männer aber, die aus den Sätteln und von den Böcken gestiegen waren und sich um Toby Cullen versammelt hatten, hielten ihre Waffen weiterhin schußbereit in den Händen.
Jacob ritt zu ihnen hin, ließ den Grauschimmel knapp vor der sechsköpfigen Gruppe anhalten und blickte forschend in die Runde. Er war sich sicher, daß Cullen der Wortführer war, als die anderen den Barbier abwartend ansahen.
Er stützte sich aufs Sattelhorn, musterte den Rotbärtigen eingehend und fragte: »Was soll das, Cullen? Haben Sie meinen Befehl nicht gehört?«
In den kleinen Augen des Barbiers blitzte es gefährlich auf. Der Burnside-Karabiner in seinen Händen schwenkte ein Stück herum, bis die Mündung fast auf Jacob zeigte.
»Gehört haben wir Ihren Befehl schon. Allerdings sind wir uns nicht sicher, ob es klug ist, ihn zu befolgen.«
»Das spielt keine Rolle!« entgegnete Jacob hart. »Ich bin der Treck-Captain. Sie haben meine Befehle zu befolgen, ganz gleich, ob sie Ihnen sinnvoll erscheinen oder nicht!«
»Aber nicht, wenn ich dabei mein Leben, das meiner Freunde und unserer Familien aufs Spiel setze, Captain. Das Ganze sieht mir sehr nach einer Falle aus. Wer weiß, wie viele Rote sich noch im Gebüsch versteckt halten.«
»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich Mondauge vertraue.«
»Sie vielleicht, Captain, wir aber nicht.« Er blickte kurz auf den Lauf seines Karabiners. »Wir vertrauen lieber auf unsere Waffen.«
Diesen Augenblick der Unachtsamkeit nutzte Jacob aus, um sich zur Seite zu beugen, die Rechte um den Lauf des Burnsides zu legen und ihn dem Barbier aus der Hand zu reißen.
Cullen stieß einen überraschten Laut aus, fing sich aber rasch wieder, machte einen Schritt zurück und stieß die Hand zu seiner Hüfte, um den Revolver aus der Tasche seiner Büffelfelljacke zu ziehen. Seine Hand war noch nicht ganz in der Tasche verschwunden, als ihm der von Jacob wie eine Keule geschwungene Karabiner mit dem Kolben gegen die Stirn klatschte.
Cullen stöhnte vor Schmerz auf, faßte an seinen Schädel und stürzte vor den Füßen der anderen Männer zu Boden. Die sahen erst ihn und dann Jacob fassungslos an. Sie hielten ihre Waffen weiterhin in den Händen, schienen aber unentschlossen, was sie tun sollten.
Jacob schleuderte Cullens Karabiner in die Nacht hinaus, wo er mit einem Rascheln in einem Busch landete.
»Die Waffen weg, habe ich gesagt!«
Er sah den Männern fest in die Augen. Einer nach dem anderen senkte den Gewehrlauf oder entspannte den Hahn des Revolvers, um die Waffe zurück ins Holster oder in die Jackentasche zu schieben.
Cullen, der noch immer am Boden lag und schmerzhaft stöhnte, nahm die Hände von seinem Kopf und starrte Jacob haßerfüllt an.
»Sie. Sie wenden sich gegen Ihre eigenen Leute?«
»Ich wende mich nur gegen diejenigen, die meine Befehle mißachten und damit den ganzen Treck in Gefahr bringen. Vermutlich ist Ihnen das nicht klar, Cullen, aber vielleicht habe ich eben Ihr Leben und das Ihrer Familie gerettet. Denken Sie mal darüber nach!«
Der Blick des Barbiers stimmte Jacob nicht zuversichtlich, daß der Mann in sich gehen würde. Deshalb sagte er zu den anderen Männern: »Nehmt Cullen den Revolver ab, bis er sich wieder beruhigt hat. Und seht zu, daß er keine Dummheiten macht!«
»Ja, Captain«, brummte einer der Männer und beugte sich über den Barbier, um dessen Revolver aus der Jackentasche zu ziehen.
Jetzt wirkten die Männer, die eben noch bereit schienen, auf die Indianer zu schießen, geradezu froh darüber, daß Jacob die Lage entschärft hatte. Vermutlich waren sie von Toby Cullen aufgestachelt worden.
Der Barbier gab sich alle erdenkliche Mühe, die von den O'Rourkes hinterlassene Lücke zu schließen, dachte Jacob. Männer wie Cullen und die beiden Iren, die anderer Menschen Ängste ausnutzten, um sich selbst in den Vordergrund zu spielen, hatten es in Krisensituationen besonders einfach.