In der Hoffnung, die Krise aus der Welt geschafft zu haben, ritt Jacob an die Spitze des Trecks zurück, wo ihn Mondauge erwartete.
»Hat der Adler Schwierigkeiten mit seinen Kriegern?« fragte der Indianer.
Täuschte sich Jacob, oder hörte er einen Anflug von Belustigung aus der gutturalen Stimme heraus?
»Nicht mehr«, antwortete der Treck-Captain. »Wie geht es jetzt weiter, Mondauge?«
»Meine Krieger begleiten uns zu unseren Häusern. Sie haben uns schon lange beobachtet. Sie sind nicht die Feinde des Adlers und seiner Leute, aber sie sind vorsichtig. Ihr seid Fremde für sie.«
»Ich verstehe«, sagte Jacob und wandte sich zum Treck um. Er hob die Hand und machte eine weit ausholende Bewegung nach vorn. »Es geht weiter, Leute! Waaageeen vooorwääärts!«
*
Mondauges Krieger begleiteten den Treck zu beiden Seiten, waren mal deutlich sichtbar und verschmolzen dann wieder mit den im Dunklen nur schemenhaft umrissenen Bäumen und Felsen.
Daß die Auswanderer sichtlich nervös waren, erstaunte Jacob nicht. Er selbst war es auch.
Aber Mondauge hatte ihm keinen Anlaß zu Argwohn gegeben. Und Jacob wollte dem Indianer keinen solchen Anlaß bieten. So konnte der junge Treck-Captain nur die Augen offenhalten und hoffen, daß es die Indianer ehrlich meinten und daß es nicht durch Leute wie Toby Cullen zu Zwischenfällen kam.
All diese Gedanken waren vergessen, als die Bäume zurückwichen und den Blick auf die Steilwand freigaben.
Die Auswanderer hatten das gesamte Tal durchquert und blickten nun sehr erstaunt drein, als es schien, daß der Weg vor einer nackten Felswand endete. Aber als sie genauer hinsahen, erkannten sie, was die Nachtdunkelheit ihnen nur schwer und stückweise enthüllte: Vor ihnen lag nicht einfach eine Steilwand, es war zugleich die Siedlung der Indianer.
Die Häuser, von denen Mondauge gesprochen hatte, schienen direkt in die Felsen hineingebaut zu sein. Besser gesagt: aus ihnen herausgehauen. Große quaderförmige Gebilde, die sich neben- und übereinander erstreckten. Jede höhere Reihe von Behausungen war ein wenig nach hinten versetzt im Vergleich zu der unter ihr liegenden und mit dieser, wie es aussah, nur durch hölzerne Leitern verbunden. Es war nicht nur eine Siedlung, es war zugleich eine Festung, deren Einnahme sich für einen Feind ziemlich schwierig gestalten würde.
»Ein Pueblo«, sagte Billy Calhoun, der seinen Piebald an die Seite von Jacobs Grauen gelenkt hatte.
»Ein Pueblo?« echote Jacob. »Was ist das?«
»Diese Häuser ähneln den alten Behausungen der südlichen Stämme. Als ich noch klein war und mit meinen Eltern beim Stamm der Oto lebte, kam ein Händler, der mit meinem Vater Geschäfte machen wollte, in unser Dorf. Er war ein Halbblut wie ich. Seine Mutter war vom Stamm der Navajo, der weit im Süden lebt. Er erzählte, daß die Vorfahren des Volkes seiner Mutter in Felsenhäusern lebten. Die Navajo nennen eine solche in den Stein gehauene Siedlung Pueblo.«
»Wie weit im Süden ist das?«
»Sehr weit, Mr. Adler. In Arizona und New Mexico.«
Mondauge hatte mit einigen seiner Männer gesprochen, die sich daraufhin eilig entfernt hatten, und trat jetzt zu Jacob und Billy.
»Die Leute des Adlers mögen hier ihr Lager aufschlagen. Der Adler mag mir folgen und seinen kranken Freund zur Heilerin bringen.«
»Wo ist das?« fragte Jacob.
Mondauge zeigte hinauf zum Pueblo.
»Dort.«
»Wie sollen wir Martin da hinaufbringen?«
»Damit«, antwortete Mondauge und deutete auf ein Gestell aus Holzstangen und Lederriemen, das die von ihm weggeschickten Indianer im Laufschritt herantrugen.
Vorsichtig wurde Martin aus dem Planwagen gehoben und auf die Trage gelegt. Der Verletzte war so schwach, daß er sich kaum rühren konnte. Jacob vermochte nicht einmal zu sagen, ob sein Freund mitbekam, was mit ihm geschah.
Der Treck-Captain gab die nötigen Anweisungen, das Lager aufzuschlagen. Nach kurzem Zögern ordnete er an, die Wagen zur Burg zusammenzufahren. Er mißtraute Mondauge zwar nicht, aber er wollte Vertrauen auch nicht mit Leichtsinn verwechseln.
Als Abner Zachary Jacob zu seinem Nachfolger als Treck-Captain bestimmte und als die Auswanderer den jungen Deutschen durch freie Wahl in diesem Amt bestätigten, wurde ihm ihr Leben anvertraut. Dafür hatte er Sorge zu tragen, das war seine wichtigste Aufgabe.
Weil Jacob Mondauge und die Indianer begleiten wollte, übergab er das Kommando im Lager Sam Kelley. Der schwarze Schmied schien der richtige Mann dafür zu sein, klug, tatkräftig und doch besonnen. Außerdem war er schon beim Treck, seit die ersten Wagen unter Abner Zacharys Führung vom Stockton Lake aufgebrochen waren. Die meisten Auswanderer kannten und schätzten den Mann, der fast jedem mit seinen Fertigkeiten als Schmied während der Reise schon behilflich gewesen war. Sei es, daß er ein Pferd beschlagen oder den gebrochenen Eisenreifen eines Rades reparieren mußte.
»Stellen Sie bewaffnete Posten auf, Sam«, riet ihm Jacob. »Aber achten Sie darauf, daß es ruhige, verläßliche Männer sind. Nicht solche Hitzköpfe wie Toby Cullen.«
»Sie können sich auf mich verlassen, Jacob«, versprach der Schwarze. »Bis Sie wiederkommen, werde ich persönlich Wache halten und aufpassen, daß der Barbier keine Dummheiten macht.« Sam grinste breit. »Sie sollten sich von Cullen nicht rasieren lassen, Captain. Könnte sein, daß ihm vor Wut das Messer ausrutscht.«
Jacob grinste zurück.
»Danke für die Warnung, Sam, aber das hatte ich auch nicht vor. Ich rasiere mich lieber selbst. Das ist sicherer und billiger.«
Vier Indianer trugen Martin auf das Pueblo zu. Mondauge schloß sich ihnen an und gab Jacob ein Zeichen, mitzukommen. Der Deutsche nickte und schloß zu ihnen auf -zusammen mit Urilla, die ihren Rock hochgerafft hatte, um der Gruppe hinterherzulaufen.
Mondauge blieb abrupt stehen, drehte sich um und legte seine Hände auf die Schultern der jungen Frau, sie absichtlich auf Distanz haltend.
»Macht sich die junge Weiße Sorgen um den Kranken?«
Urilla nickte.
»Liebt sie den Kranken?«
Wieder ein Nicken.
»Dann soll sie ihren Gott bitten, daß er seine Hand über ihn hält. Aber sie möge uns allein gehen lassen. Zu viele Fremde stören die Heilerin.«
Urillas Augen wanderten von Mondauge über Martin zu Jacob und verweilten bei letzterem. Der Treck-Captain las in ihrem Blick das Verlangen, Martin nahe zu sein. Er konnte ihren Wunsch verstehen, seinem Freund nicht von der Seite zu weichen. Ihm ging es ähnlich. Aber sie hatten keine Zeit für langwierige Verhandlungen.
»Tun Sie, was Mondauge sagt, Urilla«, sagte er deshalb. »Es ist sicher besser so.«
»Ja«, sagte sie leise und schluckte.
Urilla traf aber keine Anstalten, zum Treck zurückzugehen. Sie stand einfach nur da und sah den Männern nach, die mit dem schwer kranken Mann, vom dem sie erst seit kurzem wußte, daß sie ihn liebte, in der Nacht verschwanden. Und sie fragte sich, ob sie ihn jemals lebend wiedersehen würde.
Die Schemen der sechs Männer und der Trage waren fast mit den Umrissen der hochaufragenden Felshäuser verschmolzen, als Urilla durch ein Geräusch dicht hinter sich aus ihren Gedanken gerissen wurde. Es mußte jemand von den Auswanderern sein. Vielleicht Irene. Müde drehte sie sich um - und erschrak, als sie die Gestalt erblickte, die sich in diesem Augenblick auf sie stürzte.
Urilla wurde umgerissen und gleichzeitig von einem harten Gegenstand schwer am Kopf getroffen. Ein rasender Schmerz, gepaart mit Übelkeit, durchfuhr ihren Schädel und trieb einen großen dunklen Keil in ihr Bewußtsein. Mit solcher Gewalt, daß die Dunkelheit schließlich alles in ihr ausfüllte.
Die junge Frau bekam nicht mehr mit, wie sie von der kräftigen Gestalt an den Schultern gepackt, angehoben und ins nahe Unterholz geschleift wurde.
*