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Als sich die kleine Gruppe dem Pueblo näherte, erkannte Jacob, daß die Häuser keineswegs nur aus dem Felsgestein herausgehauen waren. Die Arbeit wäre wohl auch viel zu mühselig gewesen. Vielmehr waren sie aus Stein errichtet und in die Felswand hineingebaut worden, aber so meisterlich, daß der junge Zimmermann nicht zu sagen vermochte, wo das Menschenwerk aufhörte und das natürliche Felsgestein begann.

Er hatte sich die ganze Zeit über gefragt, wie die Indianer Martin hinaufschaffen wollten. Sie hielten eine Überraschung in Form eines Flaschenzugs bereit, in den sie die Trage mittels daran befestigter Schleifen einhakten.

Als sich Jacob genauer umsah, entdeckte er auf den Dächern über ihm mehrere solcher Flaschenzüge. Damit waren die Indianer in der Lage, auch schwere Lasten binnen kurzer Zeit auf jede der mehreren Terrassen, die von den Hausdächern gebildet wurden, zu transportieren. Der Deutsche zollte den Indianern in Gedanken seine Anerkennung dafür, wie meisterlich sie ihre Lebensweise an die natürlichen Gegebenheiten im Tal der heißen Wasser angepaßt hatten.

Seit er nach Amerika gekommen war, hatte Jacob die weißen Amerikaner häufig von den roten Ureinwohnern verächtlich als »Wilde« reden hören. Was auch immer Mondauge und sein geheimnisvolles Volk sein mochten, Wilde waren sie auf keinen Fall. Genauso wenig wie die Schwarzen, die er bislang kennengelernt hatte und die doch in großen Teilen der Vereinigten Staaten von den Weißen versklavt wurden.

Das Gerüst des Flaschenzugs, mit dem Martin nach oben gehievt wurde, stand auf der obersten Terrasse, der fünften, wenn sich Jacob in der Dunkelheit nicht getäuscht hatte. Er konnte es nur erkennen, weil das Gerüst von zwei Fackeln in den Händen zweier Indianer erhellt wurde. Andere Indianer bedienten den Flaschenzug.

Mit in den Kopf gelegtem Nacken verfolgte Jacob, wie die Trage nach oben entschwand.

Er sah Mondauge an und fragte: »Und wir?«

»Der Adler folge mir«, sagte der Mann im Bärenfell und führte Jacob zu einer der hölzernen Leitern.

Sie kletterten auf die nächsthöhere Terrasse, von dort auf die nächste und so weiter. Dabei bemerkte Jacob, daß das Pueblo keineswegs so verlassen war, wie es von unten gewirkt hatte. Aus den Tür- und Fensteröffnungen streckten sich ihm die Gesichter von Männern, Frauen und Kindern entgegen.

Er empfand es in diesem fremden Land und dem geheimnisvollen Tal, mitten unter einem unbekannten Indianervolk, irgendwie beruhigend, daß die menschliche Neugier auch hier verbreitet war. Solange alle Menschen gemeinsame Gefühle besaßen, mußte eine Verständigung untereinander möglich sein, auch wenn man nicht dieselbe Sprache hatte.

Auf seinem Weg nach oben sah Jacob außer den neugierigen Gesichtern der Menschen viele Zeugnisse vom alltäglichen Leben der Indianer. Auf Rahmen gespannte Tierfelle, tönerne Krüge und Töpfe der unterschiedlichsten Größen, mit Früchten gefüllte Körbe und Feuerstellen, über denen eiserne Töpfe hingen. In der Dunkelheit konnte Jacob nicht erkennen, ob die Eisentöpfe indianischer Fertigung waren. Es konnten auch Beute-, Fund- oder Tauschstücke sein. Bei Gelegenheiten wie dem verunglückten Treck, dem Daniel Anderson angehört hatte, hatten die Indianer sicher einiges für sie Brauchbares gefunden.

Viele weitere Indianer kletterten auf den Leitern nach oben. Es waren die Krieger, die den Wagenzug auf dem letzten Teilstück des Wegs begleitet hatten. Jetzt kehrten sie zu ihren Familien zurück, die sicher schon gespannt waren auf ihren Bericht über die Fremden, die so unerwartet in ihr Tal gekommen waren.

Allerdings blieben einige Krieger am Fuß des Pueblos zurück. Auch Mondauge verwechselte Vertrauen nicht mit Leichtsinn und traf seine Vorsichtsmaßnahmen.

*

Urilla war speiübel, als sie wieder zu sich kam, und sie übergab sich. Plötzlich legte sich eine Hand auf ihren Mund und dämpfte ihre lauten Würgegeräusche. Sie wäre fast an den Resten ihres Erbrochenen erstickt.

»Sei leise!« zischte eine Stimme in ihr Ohr. »Sonst töte ich dich!«

Die Hand ließ sie los. Urilla beugte sich zur Seite und leerte ihren Mund.

Die Übelkeit ließ ein wenig nach, aber die Angst blieb. Die Angst vor dem Mann, der sie ins Unterholz verschleppt hatte. Den sie kannte und der ihr doch fremder vorkam als die Indianer in diesem Tal.

»Was. wollen Sie. von mir?« fragte die junge Frau, immer wieder hustend und spuckend.

»Antworten!« erwiderte der Mann mit leiser, aber fester und keinen Widerspruch duldender Stimme. »Was wollen diese Rothäute von euch.«

»Sie wollen Martin Bauer helfen«, sagte Urilla und erzählte, um was es ging.

Während sie sprach, überlegte sie, ob sie laut um Hilfe schreien sollte. Sie wußte nicht, wie weit sie von möglichen Helfern entfernt war. Nur ganz leise drangen Geräusche an ihr Ohr. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie vom Pueblo oder von der Wagenburg kamen. Sie entschied sich dafür, dem Mann zu gehorchen und auf eine bessere Gelegenheit zu warten, zu fliehen oder Hilfe herbeizurufen. Der Mann machte einen sehr gefährlichen Eindruck. Das Flackern in seinen Augen drückte Besessenheit aus, wenn nicht sogar Irrsinn.

»Warum wollen Sie das von mir wissen?« fragte ihn Urilla. »Gehen Sie doch einfach zum Treck. Dort wird man sich freuen, Sie zu.«

»Schweig!« fuhr sie der Mann an. »Du willst mich doch nur in eine Falle locken, Hure! Seit dem Geistercanyon weiß ich, daß ich von euch nichts Gutes zu erwarten habe. Ihr habt mich einfach dort zurückgelassen, als Mahlzeit für die Geier. Nun werde ich dafür sorgen, daß ihr alle eine Mahlzeit für die Geier werdet!«

Er atmete schwer und erzählte mit haßverzerrtem Gesicht von seiner Befreiung und von seinen Racheplänen.

Dann zog er sein Bowiemesser und drückte die scharfe Klinge gegen Urillas Hals, bis Blut aus einem kleinen Schnitt floß. Tatsächlich überlegte er, ob er die Frau auf der Stelle töten sollte.

Aber dann entschied er, daß er sie vielleicht noch wirkungsvoller einsetzen konnte. Sie oder ihren Tod. Das blieb sich gleich.

Er nahm die Klinge von ihrer Kehle und hieb ihr den schweren Griff mit den Hornschalen und dem silbernen Knauf über den Schädel.

Der dunkle Keil drang erneut in Urillas Bewußtsein ein, und ihr schlaffer Körper sank auf den Boden zurück.

Der Mann nahm eins der beiden Seile, die er um seinen Körper geschlungen hatte, und fesselte die bewußtlose Frau so stark, daß sie kaum noch einen Finger krumm machen konnte. Zwei schmutzige Tücher band er ihr um den Kopf, eins als Augenbinde, das andere als Knebel. Er warf das lebende Bündel über seine breite Schulter und stapfte mit ihm davon, auf der Suche nach einem geeigneten Versteck.

*

Die oberste Terrasse wurde von einem natürlichen Dach überspannt, einem sich kuppelartig vorschiebenden Felsdom. Jacob hatte erwartet, von Mondauge zu Martin und der mysteriösen Heilerin gebracht zu werden. Aber der Indianer nahm eine der Fackeln, wie sie auf allen Terrassen die Nacht erhellten, aus ihrer Halterung und schritt in die Felsenhöhle hinein. Jacob blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

»Wohnt dort die Heilerin?« fragte er.

»Nein«, antwortete Mondauge, ohne stehenzubleiben oder sich auch nur nach seinem Begleiter umzusehen.

»Ich würde gern zu ihr gehen. Und zu meinem Freund.«

»Nicht jetzt. Die Heilerin darf nicht gestört werden.«

»Und wohin gehen wir?«

»Mondauge will dem Adler etwas zeigen, nach dem ihn der Weiße sowieso fragen wird.«

»Was?«

»Die Geschichte meines Volkes.«

Jacob hätte lügen müssen, hätte er gesagt, daß ihn das nicht interessierte. So folgte er dem Indianer willig in eine fremdartige Welt, die er nur in Teilen sah, vom Fackelschein herausgerissen aus der Finsternis.

Es war eine gigantische Tropfsteinhöhle, deren Stalaktiten und Stalagmiten, häufig miteinander verschmolzen, bizarre, die Phantasie anregende Figuren bildeten. Jacob glaubte verschiedene Tiere zu erkennen, Menschen in den unterschiedlichsten Haltungen und abstrakte Gebilde, die sich jeder Einordnung entzogen.