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Der Mann, der hinter einem großen, quaderförmigen Felsen kauerte und das Pueblo beobachtete, lächelte. Es war kein warmes Lächeln, das von Herzen kam.
Eher wölfisch.
Das Steinhaus am Rand des Pueblos war wie geschaffen für seine Zwecke. Es lag ein Stück abgelegen von den übrigen Häusern. Als hätten die Erbauer der Felssiedlung vor vielen Jahren einmal vorgehabt, sie ein Stück in diese Richtung zu erweitern, den Plan dann aber aufgegeben, weil sie keinen weiteren Wohnraum benötigten.
Aber - und das war das Wichtigste für den einsamen Mann -es war bewohnt. Er hatte zwei der Krieger, die den Treck begleitet hatten, durch die Einstiegsluke im Dach verschwinden sehen.
Einen Einstieg zu ebener Erde gab es nicht. Nur Fensterluken, die aber jetzt, in der Nacht, mit Brettern verschlossen waren. Die Krieger hatten die Leiter, durch die sie aufs Dach gekommen waren, hinaufgezogen.
Das war kein Hindernis für den Rächer.
Er befestigte ein Ende des ihm verbliebenen Seils an seinem Bowiemesser, dicht hinter der Parierstange am Griff. Griff und Klinge hatte er zuvor mit einem dicken Lappen umwickelt, dessen Abrutschen durch den Seilknoten verhindert wurde.
Er schlich sich dicht an das Steinhaus heran, wirbelte den behelfsmäßigen Enterhaken durch die Luft und ließ das Ende mit dem Messer los. Es flog auf die hüfthohe Umrandung des Flachdaches zu, prallte dicht unter der Kante mit einem trockenen Geräusch ab und fiel in der Nähe des Mannes zu Boden.
Als der Rächer sah, daß er zu kurz geworfen hatte, brachte er seine Krider-Rifle in Anschlag. Jetzt stand er starr wie eine Salzsäule im Schatten eines mannshohen Felsens und beobachtete angestrengt das Haus. Er wartete auf Geräusche, auf das Öffnen der Fensterluken, auf nach draußen fallenden Fackelschein, auf die neugierigen, verwunderten Gesichter der indianischen Bewohner. Aber nichts von dem geschah. Niemand schien durch das Geräusch des abprallenden Enterhakens geweckt worden zu sein.
Der Mann hängte das kurzläufige Gewehr wieder über seinen Rücken, trat aus dem Felsschatten hervor, hob den Haken auf und unternahm einen neuen Versuch. Diesmal warf er hoch genug. Wieder ein trockenes Geräusch, und der Haken lag auf dem Dach.
Erneut wartete der Mann ein paar Minuten ab und setzte seine Bemühungen erst fort, als sich im Innern der Behausung nichts regte. Er zog ganz langsam an dem Seil, so daß sich der Haken Zoll um Zoll auf eine Ecke des Daches zubewegte. Dort klemmte er sich erwartungsgemäß fest.
Der Mann hängte sich an das Seil und zog fest daran. Der Haken hielt.
Der Mann begann den Aufstieg, hielt sich mit den Händen am Seil fest und stützte sich mit den Füßen an der Hauswand ab. Jede Bewegung erfolgte langsam, mit unendlicher Vorsicht, um die Bewohner nicht zu wecken.
Er fragte sich, ob sie jede Nacht die Leiter hochzogen, oder ob sie es wegen der Fremden getan hatten, die in ihrem Tal lagerten.
Endlich war er oben, kauerte sich auf das Dach und ruhte sich ein, zwei Minuten aus. Sein Atem ging heftig. Die gebotene Vorsicht hatte die Kletterpartie über Gebühr anstrengend gemacht. Er knotete das Seil los und schlang es wieder um seinen Oberkörper. Für den Abstieg konnte er die hölzerne Leiter benutzen, die neben ihm auf dem Dach lag. Dann befreite er das große, schwere Messer von dem Lappen und steckte es zurück in die rindslederne Scheide an seiner Hüfte.
Die Einstiegsluke in der Mitte des Daches war zugeklappt. Aber sie war nicht verschlossen. Der Mann konnte sie ohne Mühe herausnehmen und legte sie leise neben sich ab.
Unter ihm erstreckte sich ein einziger großer Raum mit etwa zehn Schlafstellen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das im Haus herrschende Dunkel, so daß er die einzelnen Schlafstellen besser voneinander unterscheiden konnte.
Er fluchte leise, als er sah, daß die Leiter für die Einstiegsluke weggezogen war und an einer Wand auf dem Boden lag. Ursprünglich hatte er vorgehabt, in das Haus hinabzusteigen.
Aber vielleicht war es sogar besser so. Desto schneller konnte er nach getaner Arbeit verschwinden.
Er nahm das Gewehr von seinem Rücken. Nicht die Krider-Rifle, sondern die doppelläufige Schrotflinte, die seinem Bruder gehört hatte. Er hielt die Läufe so, daß er eine möglichst große Streuung erreichte, feuerte den ersten Schrotposten ab, schwenkte die Waffe leicht herum und schickte die zweite Ladung hinterher.
Auf die kurze Distanz richteten die Hartbleischrote eine verheerende Wirkung an. Das Echo der laut krachenden Schüsse war noch nicht verklungen, als die Schreie der sich in ihrem Blut wälzenden Indianer zu dem Schützen herauf drangen.
Er hatte die Schrotflinte mit zwei Revolvern vertauscht, seinen eigenen und dem seines Bruders. Wo immer sich unten Leben regte, schickte der Mann die Kugeln hinein und nahm Rache für den Tod seiner ganzen Familie. Zwar nur indirekt, aber die hier ausgestreute Saat würde schon bald blutige Früchte tragen.
Unterschiedslos schoß er auf Männer, Frauen und Kinder und hörte erst auf, als die Trommeln beider Revolver leer waren und ihn das metallische Klicken der Hämmer aus seinem Rauschzustand riß. Der dichte Pulverrauch brachte seine Augen zum Tränen. Er konnte kaum noch etwas unten im Haus erkennen.
Dafür bemerkte er Lichtschein und Laute, die vom Hauptteil des Pueblos herüberdrangen. Er steckte die leeren Revolver in die Holster, hängte die Schrotflinte um und ergriff die Leiter, um die Stätte des Blutbads zu verlassen.
Beim Abstieg glitt wieder das wölfische Lächeln über sein grobes Gesicht. Seine Rache hatte gerade erst begonnen.
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»Nennt man Mondauges Volk die Bärenmenschen, weil sie den Bären so sehr verehren und von ihm leben?« erkundigte sich Jacob, als er mit Mondauge über die obersten Terrassen des Pueblos ging.
»So wird es sein«, antwortete der vorangehende Indianer, der mit seiner Fackel den Weg ausleuchtete. »Aber nur ein Teil meines Volkes gehört zum Bärenbund und trägt das Fell des Bären. Es gibt noch den Wolfsbund, den Hirschbund und« - er sah Jacob an - »den Adlerbund.«
Der Deutsche überlegte, ob das der Grund war, weshalb ihm der Indianer mit soviel Zutrauen begegnet war. Er nannte Jacob stets den Adler und schien damit anzudeuten, daß der Weiße mit einem Bund seines Stammes zumindest verwandt war, wenn auch nur im übertragenen Sinn.
Mondauge steuerte auf eins der höchsten Dächer zu, auf dem zwei in Wolfsfelle gekleidete Männer mit Fackeln in den Händen standen und sie zu erwarten schienen.
»Krieger aus dem Wolfsbund«, stellte Jacob mehr fest, als daß er es fragte.
Mondauge nickte.
»Die Heilerin entstammt dem Wolfsbund, also auch ihre Helfer.«
Die beiden jungen Männer standen vor einer offenen Einstiegsluke und traten jetzt beiseite.
»Die Heilerin erwartet dich, Mondauge«, sagte einer.
Der Häuptling reichte ihm seine Fackel, ergriff das oberste Ende der Leiter und stieg in den großen Raum hinab.
Als Jacob ihm folgte, wurde er von einem starken Duftgemisch umhüllt, das ihn an den Geruch der frischen Kräuter erinnerte, die seine Großmutter früher gepflückt hatte. Trotz der Intensität war es ein durchaus angenehmer, wohltuender Geruch.
Vier Menschen hielten sich in dem Raum auf.
Drei davon waren Indianerinnen verschiedenen Alters. Die eine war schon sehr alt und hatte ihr schlohweißes Haar zu zwei langen Zöpfen gebunden, die fast bis zu ihren Hüften reichten. Die zweite war mittleren Alters und sah der Alten so ähnlich, daß sie gut deren Tochter sein konnte. Die jüngste Indianerin war um die Zwanzig und ganz gewiß die Tochter der mittleren, so sehr ähnelten sich ihre Züge. Alle drei Frauen trugen buntbestickte Gewänder aus Hirschleder und um den Hals große Amulette aus kunstvoll bearbeitetem Türkis.
Der vierte Mensch war Jacobs Freund. Martin lag in Tierfelle gehüllt mit geschlossenen Augen auf dem Boden und rührte sich nicht. Um seine verletzte Schulter lag ein neuer Verband aus Kräutern und Gräsern.