Alles in Jacob drängte ihn zu der Frage, wie es Martin ging. Und doch wagte er nicht, sie zu stellen. Weniger aus Angst vor der Antwort als aus Ehrfurcht vor den drei Frauen. Von ihnen, besonders von der weißhaarigen Alten, ging etwas Erhabenes aus. Jacob hegte keinen Zweifel, daß die alte Frau die mysteriöse Heilerin war.
Sie brach das Schweigen und unterhielt sich mit Mondauge in ihrer Sprache.
Jacob hatte den Eindruck, daß der Häuptlinge der einzige war, der von Daniel Andersen die Sprache der Weißen gelernt hatte. Oder die Indianer hielten es für unter ihrer Würde, sich in einer fremden Sprache miteinander zu unterhalten, selbst wenn ein Fremder zugegen war.
Mondauge sah Jacob an.
»Die Heilerin sagt, daß der Freund des Adlers gerade noch rechtzeitig zu ihr gebracht wurde. Sie hat ihm einen Trank eingeflößt, der das Leben in seinen Körper zurückbringt. Sie hat ihm einen Verband gemacht, der die Wunde schnell heilen läßt. Aber es kann sein, daß der Freund des Adlers Schmerzen in dem Arm haben wird, solange er auf dem Erdboden wandelt.«
»Kann ich mit ihm sprechen?« fragte Jacob.
»Nein, er schläft den Schlaf des Gesundens. Der Schlaf wird den ganzen Tag und die folgende Nacht dauern. Vielleicht auch noch länger. Es ist gut für ihn.«
Jacob suchte nach Worten des Dankes für die Heilerin, als die friedvolle Stille des nächtlichen Pueblos vom Stakkato rasch aufeinanderfolgender Schüsse durchbrochen wurde.
*
Urilla fror vor Angst und nächtlicher Kälte. Zugleich schwitzte sie vor Anstrengung und Aufregung.
Sie lag in einer Höhle. Soviel hatte sie feststellen können, als sie sich mühsam herumwälzte und bald in jeder Richtung gegen Gestein stieß. Es war eine mühsame Arbeit gewesen; sich nur durch die Verlagerung ihres Körpergewichts fortzubewegen.
Genauso mühsam, wie es jetzt war, durch das bloße Spiel ihrer Muskeln das Messer aus der Verankerung an ihrem rechten Unterarm zu lösen.
Das schmale Messer mit dem silberbeschlagenen Griff aus Walroßelfenbein, das in einer Federhalterung steckte, war ein Geschenk Alan Claytons. Sie hatte es in Kansas City getragen, wenn sie im Saloon arbeitete. Für den Fall, daß ein betrunkener Farmer oder Kuhhirt zudringlich wurde und Alan nicht in der Nähe war, um ihr zu helfen.
In den letzten Wochen hatte sie es nicht mehr getragen, so sicher hatte sie sich in der Gesellschaft von Martin Bauer und Jacob Adler gefühlt. Aber nach Martins Verletzung durch den einäugigen Berglöwen hatte sie die Halterung aus Lederriemen wieder um ihren Arm geschnallt. Der Vorfall hatte ihr gezeigt, wie trügerisch ihre vermeintliche Sicherheit gewesen war. Jetzt war sie froh über diesen Entschluß.
Endlich gelang es ihr, die Feder auszulösen. Das Messer rutschte in ihre Hand.
Weil sie wegen der Stricke nicht richtig zugreifen konnte, schnitt sie sich die Haut auf. Der Knebel macht es ihr leicht, ihren Schmerz zu verbeißen.
Sie brachte das Messer umständlich in die richtige Position und begann, den dicken Hanfstrick, der ihre Handgelenke auf dem Rücken aneinander fesselte, mit der schlanken, aber scharfen Klinge durchzuschneiden.
Da sie sich kaum bewegen konnte, ging es nur langsam voran. Als die Schüsse ertönten, wäre ihr das Messer vor Schreck fast aus den Händen gefallen. Nur kurz hielt sie in ihrer Arbeit inne, dann fuhr sie um so besessener fort.
Sie ahnte, daß die Schüsse etwas mit dem Mann zu tun hatten, von dem wie überwältigt worden war. Und daß sie vielleicht das Zeichen seiner Rückkehr waren.
Sie mußte sich vorher befreit haben, mußte die Auswanderer warnen - falls es dazu nicht schon zu spät war.
Sie achtete nicht auf den pochenden Schmerz in ihrem Schädel und nicht auf die Übelkeit, die wellenartig in ihr hochstieg und sie zu überwältigen drohte. Die Übelkeit wurde verstärkt durch den bitteren Geschmack des Knebels, der einen beständigen Würgereiz auslöste.
Plötzlich waren ihre Hände frei!
Urilla zerrte den Knebel aus ihrem Mund und atmete tief durch. Dann riß sie die Binde von ihren Augen.
Im ersten Augenblick sah sie weiterhin nichts als Dunkelheit.
Aber dann bemerkte sie den schwachen Lichtschimmer, der vom Eingang der Höhle kommen mußte.
Rasch durchtrennte sie ihre übrigen Fesseln und schlich, das Messer in der Hand, dem blassen Licht entgegen. Mehrmals stolperte sie auf dem unebenen Boden, und zweimal stürzte sie hin. Beim zweiten Sturz zerbrach ihr Messer. Knapp unter dem Griff splitterte die Klinge ab.
Waffenlos eilte sie weiter. Endlich tat sich ein großes Loch vor ihr auf, durch das die Gestirne ihr Licht in die Höhle sandten. Sie wollte schon aufatmen, als sie nahe Geräusche hörte. Das Knacken von Zweigen und ein Rascheln im Gebüsch. Es wurde lauter. Kein Zweifel, jemand kam auf die Höhle zu.
Jemand?
Das konnte nur ihr Peiniger sein!
Urilla wußte, daß sie keine Zeit mehr hatte, nach draußen zu verschwinden. Geistesgegenwärtig riß sie ein Stück Stoff von ihrer Bluse und warf es durch den Ausgang nach draußen. Vielleicht lockte das den Mann auf eine falsche Fährte!
Sie drehte sich um und hastete zurück, wieder in die Höhle hinein. Etwa auf halber Strecke hatte sie eine seitliche Abzweigung bemerkt, die jetzt ihre einzige Hoffnung war.
Sie fand die Abzweigung und lief hinein. Bald mußte sie auf allen vieren kriechen, so eng wurde der Gang im Felsgestein. Schließlich mußte sie sich wie ein Wurm hindurchwinden.
Aber dann war ihre Flucht zu Ende, als ihr Kopf hart gegen eine felsige Wand stieß.
Urilla war in dem engen Felsloch gefangen.
Zum Umkehren war es zu spät. Sie hörte bereits die schweren Schritte des Mannes, die dumpf in der Höhle widerhallten. Sie kamen näher.
Dann hörte sie einen lauten Fluch, dem noch eine ganze Reihe von Verwünschungen folgten.
Wieder Schritte. Sie schienen vor der Abzweigung zu enden.
Bald hörte Urilla Geräusche, wie sie von ihr selbst kurz zuvor verursacht worden waren. Die Geräusche eines Menschen, der sich kriechend durch den Felstunnel bewegte.
Ihr Herz pochte so stark, daß sie glaubte, der Mann müsse es hören können. Ihr Puls flatterte. Ihre Glieder begannen zu zittern.
Als sie das Keuchen des Mannes dicht hinter sich hörte, krampfte die in den Fels eingezwängte Frau die Hände zusammen und hielt den Atem an...
*
Jacob hatte auf seiner Reise durch den amerikanischen Westen schon viel Unheil gesehen, Zerstörung und Tod. Aber das Bild, das sich ihm in dem etwas abseits vom übrigen Pueblo gelegenen Haus bot, brachte ihn nahe daran, sich auf der Stelle zu übergeben. Er stützte sich mit den Händen an einer Wand ab und nahm den Blick von den Überresten des schrecklichen Blutbads.
»O Gott!« flüsterte er. »Wer kann so etwas Grausames tun?«
Eine ganze Familie war binnen Sekunden ausgelöscht worden, ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter. Dicht beieinander lagen die zerfetzten Körper eines alten Mannes und eines kleinen, kaum zwei Jahre alten Mädchens.
Neun ermordete Menschen!
Er spürte, wie ihn die Blicke der Indianer, die wie Jacob und Mondauge in das Todeshaus hinabgestiegen waren, durchbohrten. Der Tod dieser unschuldigen Menschen war durch die Waffen eines Weißen hervorgerufen worden. Oder eines Schwarzen. Jedenfalls eines der Menschen, für die Jacob in ihren Augen verantwortlich war. Er hatte das Gefühl - und konnte es den Indianern nicht einmal verdenken -, die Krieger hätten ihn am liebsten auf der Stelle getötet. Vielleicht hielt sie nur Mondauges Anwesenheit davon ab.
»Wer von den Leuten des Adlers hat das getan?« fragte der Häuptling bitter.
»Ich weiß es nicht, Mondauge. Ich kann mir nicht denken, daß überhaupt einer der Menschen aus dem Treck zu so etwas fähig ist.«