Jacob und Billy standen vor einem Rätsel bei dieser seltsamen Mischung aus einem Weißen und einem Indianer. So wie Jacob vor einem weiteren Rätsel stand, weil ihm das Gesicht des Mannes bekannt vorkam und doch, so sehr er auch grübelte, unbekannt blieb. Dabei hatte er das Gefühl, es erst vor ganz kurzer Zeit gesehen zu haben.
Der junge Deutsche feuerte seinen Revolver zweimal kurz hintereinander ab. Das Zeichen für den zweiten Suchtrupp, daß er und Billy fündig geworden waren. Es dauerte keine zehn Minuten, da erreichten Custis Hunter, Melvin Freeman und Sam Kelley den großen Felsblock.
»Was macht ihr da oben?« rief Sam zu ihnen herauf.
»Hier oben bei uns liegt das Phantom«, verkündete Jacob zum Erstaunen seiner drei Gefährten.
»Es liegt!« wiederholte der schwarze Schmied ungläubig. »Schläft es etwa?«
»Nein«, erwiderte Jacob und klärte die drei Männer über die Umstände auf. »Nach hinten flacht der Felsblock nicht so steil ab. Billy und ich können den Mann da hinuntertragen. Sucht einen Weg um den Felsen herum und erwartet uns da. Aus euren Jacken könnt ihr schon mal eine provisorische Trage basteln, auf der wir den Verletzten nach unten in den Canyon bringen können.«
»Aber nicht durch den Kamin, durch den wir aufs Plateau geklettert sind«, meinte Sam. »Das hält er bestimmt nicht aus.«
»Stimmt. Aber es muß einen einfacheren Weg in den Canyon geben. Harper und seine Leute sind gewiß nicht durch den Kamin heraufgekommen, sonst hätten sie mit dieser Möglichkeit gerechnet und uns nicht so einfach in den Rücken von Hoss und Skinny kommen lassen.«
Jacobs Vermutung bestätigte sich. Der Weg hinunter in den Geistercanyon war steil und gefährlich. Aber unter Anwendung allergrößter Vorsicht bewältigten ihn die fünf Männer und der Verletzte auf der behelfsmäßigen Trage.
Auf halber Strecke wurde der Weg gangbarer. Dort fanden sie die Pferde der Killer, drei Reit- und zwei Packtiere. Sie nahmen sie mit. Die drei Toten, die oben am Rand des Plateaus lagen, konnten die Pferde nicht mehr gebrauchen.
Endlich kamen sie zu ihren Gefährten, die inzwischen die bei der Schießerei in alle Richtungen gelaufenen Pferde und Maultiere wieder zusammengetrieben hatten. Zu Jacobs großer Erleichterung hatten die Auswanderer keine Verluste zu beklagen, nur zwei Leichtverletzte mit Streifschüssen.
Sie legten den alten Mann auf eine Decke und befreiten seinen Oberkörper vorsichtig von der Kleidung, um ihm einen besseren Verband anzulegen. Billy kramte derweil die blutstillenden Kräuter aus seiner Satteltasche.
Jacob dachte über die vielfältigen Kenntnisse des jungen Halbbluts nach, als er plötzlich stutzte. Das Phantom trug um den Hals eine feingliedrige Kette, an der unter seiner Kleidung ein silbernes Medaillon hing. Ein in allen Einzelheiten identisches Medaillon hatte er erst am vergangenen Tag gesehen. Jetzt wußte er, weshalb ihm das Gesicht des Alten so bekannt vorgekommen war.
Nachdem sie dem Verletzten die Kräuter aufgetragen und den neuen Verband angelegt hatten, öffnete Jacob das Medaillon. Wie er erwartet hatte, enthielt es zwei winzige Fotografien.
Das eine Bild zeigte vier Kinder, drei heranwachsende Mädchen und einen kleinen Jungen.
Auf dem anderen Bild sah man zwei Erwachsene, einen hageren Mann und eine rundliche Frau, die vor ihm auf einem Stuhl saß. Das Gesicht des Mannes ähnelte sehr stark dem des vermeintlichen Phantoms. Man hätte sie für identisch halten können, hätte der Mann auf der Fotografie nicht etwa zwanzig Jahre jünger ausgesehen. Und Jacob wußte genau, daß die Fotografie erst ungefähr fünf Jahre alt war.
Und dennoch - konnte das sein?
Jetzt war Jacobs Ansporn, den Verletzten lebend zum Treck zu bringen, noch viel größer. Je länger er über die Sache nachdachte, desto mehr wurde sein Verdacht zur Gewißheit.
Für die Auswanderer, die von der Lawine begraben worden waren, konnten sie nichts mehr tun. Der Geistercanyon bildete ihr natürliches Grab und verdiente seinen unheimlichen Namen nun um so mehr. Es hätte zuviel Zeit gekostet, alle auszugraben, um ihnen ein christliches Begräbnis zu verschaffen.
Zeit war das, was die Auswanderer nicht hatten. Die Sonne hatte sich innerhalb der letzten Stunde hinter einer dicken Dunstschicht versteckt. Es war ganz plötzlich kalt geworden. Der Schneegeruch, den Jacob schon in der Nacht so deutlich verspürt hatte, lag jetzt noch um einiges stärker in der Luft. Der Treck der Auswanderer über die Rocky Mountains war ein Rennen gegen die Zeit - gegen den Winter, der den Wagenzug mit seinen Schneemassen einzuschließen drohte.
Die Männer legten Leo Cartlands Leiche zu seinen Familienangehörigen und schütteten die Mulde, die sie vergeblich zur Rettung von Matt und Celia Cartland gegraben hatten, wieder zu, um die Toten vor den Aasgeiern zu bewahren.
Die großen häßlichen Vögel kreisten bereits über dem Plateau, auf dem die Leichen der drei Killer lagen. Den Gedanken, Jed Harper, Hoss und Skinny zu bestatten, verwarfen Jacob und die anderen schnell als zu zeitraubend. Sie hätten extra wieder auf das Plateau steigen müssen.
Die drei Toten da oben hatten kein Mitleid verdient. Sie hatten die Lawine losgelassen und waren verantwortlich für den Tod von knapp fünfzig Menschen - Männern, Frauen und Kindern. Sie hatten es sich selbst zuzuschreiben, daß sie jetzt ein Fressen für die Geier wurden. Die Aasvögel würden ein wahres Festmahl halten können, an ihnen und an den vielen Tierkadavern, die im Geistercanyon lagen.
Die Männer rammten ein aus Wagenbrettern zusammengezimmertes Holzkreuz in das Geröll, und Jacob sprach ein kurzes Gebet. Das war die ganze Trauerfeier.
Noch vor der Mittagsstunde rückten sie ab. Der alte Mann, der noch nicht wieder zur Besinnung gekommen war, lag auf einer Bahre, die ebenfalls aus Wagenbrettern gefertigt war. Trümmer lagen in der engen Schlucht genug herum.
Und Tote.
*
Das Getrappel der mehr als hundertfünfzig Hufe war längst verklungen, und Stille lag über dem Geistercanyon, der so unversehens zu einem riesigen Friedhof geworden war.
Durchbrochen wurde diese Stille nur von dem heiseren Krächzen der Aasgeier, die sich hin und wieder um die Beute stritten, obwohl wahrlich genug totes Fleisch für alle da war. Aber dieses Krächzen wirkte nicht unpassend. Es war die richtige Begleitmusik zu dem traurigen Ereignis.
Einer der größten Geier, ein im Vergleich zu seinen eher hageren Artgenossen fast massiges Tier, hatte zwei andere Aasfresser von dem Kadaver eines vom Fels erschlagenen Ochsen vertrieben und tat sich an der Wunde gütlich, die die beiden unterlegenen Raubvögel mit ihren spitzen, gekrümmten Schnäbeln in das Fleisch geschlagen hatten. Tief tauchte er seinen nackten Kopf in die blutige Masse ein und riß große Stücke heraus, die er gierig verschlang.
So sehr war er in seinen Leichenschmaus vertieft, daß er sich nicht von der Erschütterung stören ließ, die auf einmal durch den Kadaver ging. Sie brachte ihn nicht einmal ins Wanken, denn seine Füße mit den langen Zehen und den leicht gekrümmten Krallen hatte er tief in das tote Tier geschlagen. Der Vorgang war für den Aasfresser kein ungewöhnliches Ereignis. Schließlich war seine Beute nicht immer Aas. Oft lebte sie noch, war aber nicht mehr in der Lage, sich zu wehren. Das war für ihn stets ein besonderer Leckerbissen: frisches, noch lebendiges Fleisch. Nicht zu vergleichen mit schon halb Verwestem.
Doch diesmal täuschte sich der große Vogel mit dem dunklen Sargträgergefieder. Sein Opfer war wirklich tot. Das Zucken, das durch den Kadaver ging, war auch nicht auf Nervenstränge zurückzuführen, die vom Ableben des Ochsen noch keine Kenntnis genommen hatten. Es kam von außerhalb, von dem Geröllhügel, auf dem das tote Zugtier teilweise lag.