»Halt, Adler!« machte der Ire seine Hoffnung zunichte. »Halte mich nicht für blöd! Laß die Pfoten von deinem Colt und schnall den Waffengurt ab! Dann läßt du das Messer fallen!«
Wieder gehorchte der Deutsche.
»Darf ich mich umdrehen?« fragte er, nachdem der Gurt mit seinem 44er und das Bowiemesser ins Gras gefallen waren.
»Warum nicht.«
Dann stand Jacob dem grobschlächtigen Iren gegenüber, der die doppelläufige Schrotflinte auf ihn gerichtet hielt. Die Waffe, die soviel Unglück über die beiden indianischen Familien gebracht hatte.
Patrick O'Rourke hatte schon immer einen wenig sympathischen Eindruck auf Jacob gemacht. Jetzt kam noch etwas hinzu, das den Deutschen erschauern ließ: der Wahnsinn, der in das abstoßende, breite Gesicht geschrieben stand.
Leider war es nicht die Art von Wahnsinn, die O'Rourke die Kontrolle über sich verlieren ließ. Der Mann wußte genau, was er tat.
»Was soll das alles, O'Rourke?« versuchte Jacob an seine Vernunft zu appellieren, weil es das einzige war, was er noch tun konnte. »Sie haben schon soviel Unglück erlebt, warum machen Sie alles noch schlimmer?«
»Unglück?« O'Rourke lachte rauh. Es klang fast wie das höhnische Meckern einer Ziege. »Unglück ist ein ziemlich schwaches Wort für das, was ihr, du und deine Freunde, meiner Familie angetan habt. Ihr habt sie bei lebendigem Leib begraben!«
»Das stimmt doch gar nicht! Wir haben die Lawine nicht ausgelöst! Das waren Jed Harper und seine Komplizen. Wir sind gekommen, um euch zu helfen. Aber wir kamen zu spät. Alle waren bereits tot. Dachten wir jedenfalls. Wir konnten nicht wissen, daß Sie noch am Leben waren, O'Rourke!«
Die häßlichen Züge des Iren verzogen sich noch mehr, und er brüllte: »Alles Lüge! Ihr hättet uns retten können, wenn ihr nur gewollt hättet. Aber ihr habt alle sterben lassen. Dafür lasse ich jetzt euch sterben. Dich töte ich persönlich, Dutch, weil es mir besondere Freude bereitet. Und dann sehe ich zu, wie die Rothäute deine Freunde abschlachten!«
Jacob sah, wie O'Rourke den Zeigefinger um beide Abzugshebel zugleich krümmte. Er wollte beide Schrotladungen abfeuern, obwohl auf die kurze Entfernung schon eine ausgereicht hätte, um Jacob zu töten.
Der Ire erstarrte mitten in der Bewegung, als er hinter sich das laute Knacken im Unterholz hörte. Das rettete Jacob vermutlich das Leben. Bevor O'Rourke seine Mordabsicht noch in die Tat umsetzen konnte, brach ein riesiges Ungetüm aus dem Gehölz hervor und wischte den Iren mit einem Prankenhieb beiseite, als sei der kräftige Mann nur eine Strohpuppe.
Krachend entluden sich die beiden Läufe der Schrotflinte, aber die Ladungen gingen in die Luft. O'Rourke überschlug sich mehrmals und blieb in seltsam verrenkter Haltung vor einem niedrigen Felsblock liegen.
Jacob rettete sich mit einem weiten Satz zur Seite vor dem Ansturm des wütenden Bären. So ein gewaltiges Tier hatte er, abgesehen von den Büffeln in der weiten Prärie, noch nie gesehen. Es stellte sich schützend vor das Junge und richtete sich zu einer Größe auf, die Jacob nicht für möglich gehalten hätte. Der Bär mit dem braunen, weiß durchsetzten Fell überragte den hochgewachsenen Deutschen um mindestens zwei Fuß. Das mußte einer jener Grizzlybären sein, von denen Jacob schon gehört hatte.
Er hatte keine Zeit, länger über das Tier nachzudenken. Der Grizzly stieß ein urzeitliches Gebrüll aus und kam, noch immer auf seinen Hinterbeinen stehend, auf Jacob zu. Das Tier schien sehr erregt zu sein. Offenbar glaubte es sein Junges in Gefahr.
Jacob wich langsam, den Grizzly nicht aus den Augen lassend, zurück und überlegte krampfhaft, was er tun konnte.
An seine Waffen kam er nicht heran. Sie lagen fast unter den Füßen des Bären.
In ihm stieg der Gedanke auf, sich der Waffen des außer Gefecht gesetzten Iren zu bemächtigen. Aber auch sie lagen zu weit von ihm entfernt. Sobald Jacob dem riesenhaften Tier den Rücken zudrehte, würde es zuschlagen, das spürte er.
Plötzlich drehte sich die Welt um Jacob, und er stürzte schmerzhaft auf etwas Hartes. Eine Baumwurzel, die zwei Handbreit aus dem Boden ragte und ihn zu Fall gebracht hatte. Er lag auf dem Rücken und richtete sich halb auf, aber es schien vergebens zu sein.
Der Grizzly ließ sich auf alle viere fallen, stieß ein erneutes Brüllen aus und machte sich bereit, sein Opfer zu zerfleischen.
In sein Gebrüll mischten sich gutturale Laute. Eine Gestalt trat in Jacobs Gesichtskreis, die ihn im ersten Augenblick an einen weiteren Grizzly denken ließ. Aber sprach ein Grizzly in der Sprache der Indianer?
Jacob erkannte Mondauge, der sein Bärenfell trug, sich zwischen Jacob und den Grizzly stellte, heftig mit beiden Armen gestikulierte und laut auf den Bären einsprach.
Der Grizzly sah sich das eine Weile an, drehte sich dann um, trottete zu dem Jungtier, stupste es mit der Nase an und verschwand mit ihm im knackenden Gehölz.
Mondauge drehte sich um, sah Jacob an und sagte: »Es scheint, als sei Mondauge gerade noch rechtzeitig gekommen, um den Adler vor Mondauges Bruder, dem Bären, zu retten.«
»Das kann Mondauge laut sagen«, seufzte Jacob und erhob sich. Seine Beine wackelten vor Aufregung. »Was hat der Häuptling seinem Bärenbruder gesagt?«
»Daß es nicht die Sache des Bären ist, den weißen Mann zu töten, sondern die Sache von Mondauge und seinem Volk.« Der Häuptling richtete seinen Blick auf Patrick O'Rourke. »Wer ist das?«
»Der Mörder«, sagte Jacob und berichtete ihm knapp, was sich ereignet hatte.
Mondauge kniete sich neben den Iren und untersuchte ihn kurz.
»Der Hieb von Mondauges Bruder hat ihn getötet.« Der Häuptling erhob sich wieder und sah Jacob an. »Das Schicksal hat uns ein Zeichen gegeben. Es hat den Bären gesandt, um den Mörder zu strafen, damit zwischen Mondauges Volk und den Leuten des Adlers kein Krieg entbrennt.«
Jacob sah ihn zweifelnd an.
»Glaubt Mondauge wirklich, daß der Grizzly vom Schicksal gesandt wurde?«
Der Häuptling lächelte leicht und zuckte in der Art des weißen Mannes mit den Schultern.
»Zumindest klingt es so gut, daß es Mondauges Brüder und Schwestern vom Wolfsbund überzeugen wird. Mit dem Schicksal will es sich niemand verderben.«
»Etwas, das der rote mit dem weißen Mann gemeinsam hat«, murmelte Jacob und suchte seine Waffen zusammen. »Wie kommt Mondauge überhaupt hierher?«
»Mondauge wollte dem Adler mitteilen, daß er beim Stammesrat mehr Zeit für die Weißen und Schwarzen erbeten hat, um den Mörder zu finden. Bis zum Sonnenuntergang.«
»Vielen Dank«, sagte Jacob und schnallte seinen Waffengurt um. »Für Mondauges Fürsprache beim Stammesrat und für die Rettung meines Lebens.«
Er hatte kaum ausgesprochen, als die ersten Auswanderer, durch das Krachen der Schrotflinte angelockt, auf die Lichtung stürmten und sich erstaunt umsahen.
*
Mondauge behielt recht. Patrick O'Rourkes Tod durch den Hieb des Grizzlybären besänftigte die aufgebrachten Indianer und überzeugte sie davon, daß es das Schicksal mit diesem Sühneopfer bewenden lassen wollte.
Die Auswanderer konnten von Glück sagen, daß ihnen Mondauge so freundlich gegenüberstand. Ohne seinen Einsatz hätten die Indianer den Wink des Schicksals vielleicht ganz anders ausgelegt.
Martin ging es zusehends besser. Am übernächsten Morgen wurde er wieder in die Obhut seiner Freunde gegeben. Und hier erholte er sich fast noch schneller, als Urilla ihm sagte, daß sie ihn liebte.
Als Martin all seinen Mut zusammennahm und sie fragte, ob sie seine Frau werden wolle, antwortete sie: »Das ist doch wohl das mindeste, was ich als Gegenleistung für meine Pflegedienste verlangen kann!«
Mondauge bot den Auswanderern an, den ganzen Winter über im Tal der heißen Wasser zu bleiben.
Daß sich die Leute vom Treck dagegen entschieden, lag nicht so sehr an der Kluft, die O'Rourkes Mordtat zwischen ihnen und den Indianern aufgerissen hatte.