Wieder bewegte sich der große Körper, und ein paar der kleineren Steine kullerten von der Spitze des Geröllhaufens, rissen andere mit und wirkten wie eine lächerliche Miniaturausgabe der großen Lawine, von der die sieben Planwagen begraben worden waren.
Der Geier hielt in seiner Mahlzeit inne, ein blutiges Fleischstück noch im Schnabel und schaute sich nach allen Seiten um, den traurigen Kahlkopf ruckartig bewegend. Aber er konnte keinen unerwünschten Rivalen in seiner Nähe entdecken. Seine Artgenossen hatten sich auf die anderen Kadaver verteilt, von denen es hier genug gab. Ein paar machten sich auch oben auf dem Plateau zu schaffen.
Beruhigt schluckte der große Aasgeier das Fleischstück hinunter, als auch schon eine neue, diesmal sehr heftige Erschütterung durch den Ochsenkadaver ging. So stark, daß der Geier seinen Platz kreischend verließ. Abwartend stand er neben dem toten Tier auf steinigem Boden und beobachtete wachsam, was sich bei dem großen Geröllhaufen tat.
Eine ganze Menge Steine, auch große, kollerten herunter. Es nahm gar kein Ende. Und dann kroch etwas zwischen den Steinen hervor.
Etwas Lebendiges!
Der Geier wurde noch aufmerksamer. Er witterte neue Beute, ganz frisches Fleisch. Aber er widerstand der Versuchung, sofort darüber herzufallen. Erst mußte er wissen, um was es sich handelte. Vielleicht war es gefährlich, denn es wurde immer größer.
Erst war es nur eine staubbedeckte Hand, die sich mit fahrigen Bewegungen aus dem Steinhaufen erhob. Dann ein ganzer Arm. Jetzt tauchten die zu dem Arm gehörige Schulter und der Kopf des Menschen auf.
Er fuhr langsam mit der Hand über seine Augen, wischte die Staubschicht herunter und blinzelte ins Tageslicht. Für ihn war es angenehm, daß die Sonne ihr Antlitz hinter einem dicken Dunstschleier verborgen hatte. Ihr ungefiltertes, grelles Licht hätte seinen nicht mehr daran gewöhnten Augen wehgetan.
Der Kopf drehte sich in alle Richtungen, die Augen ungläubig geweitet. Obwohl es ein grobes, abstoßendes Gesicht war, dem man die Wiedergabe feinfühliger menschlicher Regungen kaum zugetraut hätte, wäre für einen menschlichen Beobachter das Entsetzen deutlich sichtbar gewesen.
Dem Geier blieb das ebenso verborgen wie jegliches menschliches Gefühlsleben. Er dachte in anderen Kategorien. Für ihn war nur wichtig, ob ihm das, was da langsam und unter Qualen Stück für Stück aus dem Steinhaufen kroch, gefährlich werden konnte. Wenn nicht, war es eine zusätzliche Beute. Er konnte sich zwar schon an dem Ochsen mehr als sattfressen, aber daran dachte er nicht. Beute - Fleisch - konnte man niemals genug haben.
Je größer das Lebewesen wurde, das aus dem Steinhaufen wuchs, desto mehr fragte sich der Aasfresser allerdings, ob das wirklich eine geeignete Beute war.
Der ganze Oberkörper des Menschen war jetzt frei. Die Hände stützten sich auf dem Geröll ab, suchten auf dem lockeren Gestein, bis sie endlich festen Halt fanden. Dem Geier entging, daß sich das breite Gesicht des Menschen vor Schmerzen verzerrte, als er sich unter großen Anstrengungen aus dem steinernen Grab stemmte. Er biß sich die Unterlippe blutig und stöhnte laut vor Qual, bis er es endlich geschafft hatte, auf dem Geröllhaufen lag und ein Stück herunterrutschte, genau auf den großen Vogel zu.
Der Geier wich nicht zurück. Der Geruch des frischen Blutes, das von der Lippe des Mannes floß, zog ihn fast magisch an. So sehr, daß er nicht darauf achtete, wie der Mann einen großen, länglichen Gegenstand aus dem Lederfutteral an seiner Hüfte zog. Auch das metallische Klicken, das der Mann mit einer Bewegung seines Daumens auslöste, verschreckte ihn nicht.
Dann zerplatzte der Geier zu einer Wolke aus Federn, Knochen, Fleisch und Blut. Das Echo des Schusses rollte durch den Canyon. Die passende Musik zu dem Tanz, den die Federn des zerschossenen Vogels in der Luft aufführten.
Die anderen Geier im Canyon stoben erschrocken auf. Sogar ein paar ihrer Artgenossen oben auf dem Plateau. Die meisten ließen sich bald wieder auf ihrer Beute nieder. Nur ein paar waren vorsichtiger und zogen hoch oben am düsteren Himmel ihre Kreise.
Sie waren die Klügeren.
Als sich der Mann aufgerichtet hatte, leerte er die Trommel seines Revolvers in einer Serie dicht aufeinander folgender Schüsse. Drei der Kugeln prallten nur gegen harten Stein, aber zwei zerfetzten weitere Aasfresser.
Jetzt ergriffen auch die mutigsten Geier die Flucht. Die meisten ließen sich nach einer Weile auf dem Plateau nieder und trotzten ihren dortigen Artgenossen einen Platz bei den drei toten Killern ab. Einige andere zogen abwartend ihre Kreise über dem Geistercanyon.
Der Mann unter ihnen stolperte durch das Tal, wühlte mit bloßen Händen in den großen Steinen herum und schrie immer wieder die Namen seiner Angehörigen.
Die einzigen, die ihn hörten, waren die Geier. Aber sie verstanden ihn nicht.
Die einzigen, die ihm antworteten, waren die Felswände. Aber das half ihm nicht.
*
Jacobs Trupp erreichte das Lager des Trecks mit Hereinbrechen der Abenddämmerung.
Die Männer wurden von ihren besorgten und nun erleichterten Angehörigen empfangen.
Und von winzigen, kaum spürbaren Schneeflocken, die sofort schmolzen, wenn sie sich auf einen Menschen, ein Tier, einen Baum oder auch nur auf einen Felsblock setzten.
Noch schmolzen sie.
Wenn die Temperatur weiter so stark abfiel wie im Laufe dieses Tages, würde der Schnee sehr bald liegenbleiben. Solange es nur so wenige, winzige Schneeflocken waren, würde das nicht weiter schlimm sein.
Doch die schneebedeckten Berggipfel der Rocky Mountains verhießen etwas anderes: Massen von Schnee, die alles mit ihrem kalten Weiß bedeckten.
Dann würden die Wagen und die Auswanderer nicht mehr vorankommen. Und die Menschen würden, nachdem sie alle Vorräte vertilgt hatten, sterben.
Im Augenblick dachten nur die wenigsten daran. Zu groß war die Freude über das Wiedersehen. Die Männer vom Rettungstrupp freuten sich, daß das Lager von dem befürchteten Indianerüberfall verschont geblieben war. Und die Zurückgebliebenen waren froh, daß die Männer ihre Mission heil überstanden hatten.
Leo Cartlands Fehlen fiel erst nach einiger Zeit auf. Er hatte schließlich keine Angehörigen hier beim Oregon-Treck gehabt. Dann bemerkten die Menschen den seltsamen Mann, der auf der Trage lag, und drängten sich so dicht um ihn, daß Jacob, Sam Kelley, Custis Hunter und Melvin Freeman sie mit sanfter Gewalt zurücktreiben mußten.
Jacob entdeckte Irene in der Menge, ging zu ihr und erkundigte sich nach Martins Zustand.
»Es sieht nicht gut aus«, antwortete die junge Deutsche mit leiser Stimme. »Der Blutverlust hat Martin ziemlich geschwächt. Zwar ist er bei Sinnen, wenn er nicht gerade schläft, aber er ist trotzdem kaum ansprechbar, liegt völlig teilnahmslos auf seinem Lager.«
»Ist Urilla bei ihm?«
Irene nickte. »Sie weicht nicht von seiner Seite. Ich glaube, ihr liegt sehr viel an Martin. Mehr, als ich dachte. Vielleicht mehr, als sie selbst gedacht hat.«
»Du solltest sie trotzdem ablösen und zu mir schicken.«
Irene sah überrascht zu Jacob auf.
»Warum?«
»Komm mit«, sagte er nur und ging zu der Schlepptrage mit dem alten Mann, der, wie fast während des gesamten Rittes, in Ohnmacht versunken war.
Jacob griff unter seine Kleidung, zog das silberne Medaillon hervor, klappte es auf und zeigte Irene die beiden kleinen Fotografien.
»Kommt dir das bekannt vor?«
»O mein Gott!« stieß Irene hervor und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich hole Urilla.«
Sie drehte sich um, raffte mit beiden Händen den langen, wollenen Rock und lief zu ihrem Wagen.
Jacob hielt das geöffnete Medaillon noch in der Hand, als Urilla zu ihm kam. Offenbar hatte ihr Irene nicht gesagt, um was es ging. Urillas Gesichtsausdruck schwankte zwischen Verwunderung und Verärgerung. Ihr war es gar nicht recht, Martin alleinlassen zu müssen.