Aber die Verwunderung verschwand rasch und machte Bestürzung Platz, als sie den Mann auf der Trage erblickte.
»Vater!« rief sie aus und ging neben ihm in die Knie.
»Also doch, ich habe es geahnt«, murmelte Jacob, während er das Medaillon wieder verschloß und es auf die Brust des Alten legte. »Er hat große Ähnlichkeit mit dem Mann auf der Fotografie. Aber er sieht um zwanzig Jahre älter aus. Sagten Sie nicht, Urilla, die Fotografien seien vor etwa fünf Jahren entstanden, kurz bevor sich ihr Vater aufmachte, um in Oregon eine neue Heimat für seine Familie zu suchen?«
»Ja, das stimmt«, schluchzte Urilla, die ihre Arme vorsichtig um den Verletzten gelegt hatte. »Wir hatten nicht viel Geld. Aber Vater wollte, daß wir einander erinnern. Er ahnte, daß die Reise lange dauern würde. Ein Medaillon nahm er mit, das andere trug unsere Mutter immer um den Hals. Nach ihrem... ihrem Tod habe ich es an mich genommen.«
Ihre Hand strich ganz sanft über das verwitterte Antlitz des Bewußtlosen.
»Vater ist sehr alt geworden in diesen fünf Jahren. Was mag er alles erlebt haben?«
»Auf jeden Fall Ungewöhnliches«, meinte Jacob und berichtete knapp, was sich im Geistercanyon ereignet hatte.
Urilla befand sich in einem Zwiespalt. Sie sorgte sich um Martin und wollte doch auch ihren Vater nicht verlassen, den zu finden sie überhaupt den Treck nach Oregon angetreten hatte. Jacob löste diesen Konflikt, indem er anordnete, den alten Daniel Anderson neben Martin in den Wagen zu legen. Platz genug war vorhanden, da Jacob und seine Freunde sehr wenig persönliche Habe mit sich führten. So konnte sich Urilla um beide kümmern und sich mit Irene sowie anderen Frauen des Trecks bei der Pflege der Kranken ablösen.
Wenn auch alles danach aussah, daß bald nur noch zwei Leichen unter der Segeltuchplane liegen würden.
*
Der Schnee fiel die ganze Nacht hindurch, dichter und mit größeren Flocken. Ein kalter Wind strich pfeifend durch die Berge und ließ Menschen und Tiere sich dicht aneinander drängen.
Als die Weckschüsse der Wachen um vier Uhr morgens über die Wagenburg rollten, war das Land von einem weißen Teppich bedeckt, in den ein erwachsener Mann mit dem halben Unterschenkel versank. Das war noch nicht viel angesichts der Schneemassen, die in den Rocky Mountains üblich waren. Aber der Winter hatte auch gerade erst begonnen und den Auswanderern einen Vorgeschmack dessen geliefert, was sie in dem gewaltigen Felsengebirge erwartete.
Wortkarg und mit düsteren Gesichtern stapften die Menschen durch den Schnee. Alle wußten, was die weiße Decke für sie zu bedeuten hatte. Fast alle. Die kleineren Kinder verstanden die Ängste ihrer Eltern nicht. Sie tollten im Schnee herum, bauten aus ihm Burgen und Figuren oder bewarfen sich mit Schneebällen.
Die Männer versammelten sich um Jacobs Wagen, um mit ihrem Captain zu beratschlagen, was zu unternehmen war.
»Wir hätten auf die O'Rourkes hören und umkehren sollen«, brummte mißmutig der kleine, stämmige Toby Cullen, der in Oregon einen Barbierladen aufmachen wollte, weil er der Meinung war, die Konkurrenz in Missouri sei zu groß geworden.
»Glaubst du, auf dem California Trail fällt kein Schnee?« fragte ihn Noah Koontz.
Cullen starrte den dunkelhäutigen Farmer mit unwilligem Blick an.
»Natürlich fällt dort auch Schnee. Aber wir wären jetzt ein ganzes Stück näher an Fort Hall und hätten eine gute Chance, dort den Winter zu überstehen.«
»Ich würde eher sagen, wir wären jetzt tot«, fuhr Sam Kelley dazwisehen. »Begraben im Geistercanyon unter Tonnen von Felsgestein.«
»Da ist was dran«, gab Cullen kleinlaut zu und strich mit einer unsicheren Geste über seinen rötlichen Schnurrbart mit den kunstvoll nach oben gezwirbelten Enden. »Ich wollte ja auch nur sagen, daß wir so schnell wie möglich umkehren sollten, bevor uns der Schnee den Weg zum Fort abschneidet.«
»Vielleicht wäre es besser, weiterzufahren«, sagte laut Jacob, der vor seinem Planwagen inmitten der Männer stand. »Der Weg zurück nach Fort Hall würde auf jeden Fall länger dauern als der Herweg. Der Geistercanyon ist durch die Lawine unpassierbar geworden. Unsere Wagen kommen nicht über das Geröll. Wir wissen nicht, wie lange ein Umweg dauert.«
»Auf jeden Fall nicht so lange wie der restliche Weg nach Oregon«, meinte der Barbier und sah den Treck-Captain skeptisch an. »Wenn wir weiterfahren, werden wir irgendwann im Schnee ersticken.«
»Das ist nicht gesagt«, entgegnete Jacob und sah hinauf in den Himmel, wo sich die Sonne zaghaft tastend hinter dicken Wolken hervorwagte. »Es klart auf, und der Schneefall hat auch aufgehört. Wenn wir Glück haben, ist der Schnee nur ein Zwischenspiel. Wir könnten die Berge hinter uns gelassen haben, bevor der Winter richtig über die Rockies hereinbricht.«
Cullen stemmte die Hände in die breiten Hüften und reckte sein bärtiges Kinn vor.
»Wer garantiert uns das? Sie, Captain?«
Jacob schüttelte den Kopf.
»Das kann ich euch nicht garantieren. Niemand kann das.
Aber auch niemand kann euch garantieren, daß wir es zurück nach Fort Hall schaffen.«
Unter den Männern entstand eine hitzige Debatte, als sich plötzlich Irene aus dem Wagen beugte und Jacob rief.
Der wandte seinen Kopf um und fragte, was los sei.
»Urillas Vater ist aus der Ohnmacht erwacht!«
Diese Nachricht ließ die Männer aufhorchen.
Jacob ließ sie einfach stehen und kletterte in den Planwagen, wo es durch die beiden Krankenlager eng geworden war.
Urilla hockte neben dem alten Mann und tupfte sein Gesicht mit einem feuchten Tuch ab.
Daniel Anderson sah seine Tochter an. Seine rissigen Lippen formten langsam, Silbe für Silbe, ihren Namen. Dann sagte er etwas in einer seltsamen, kehligen Sprache, die niemand von ihnen verstand.
»Was ist, Vater?« fragte Urilla und sah den Alten besorgt an. »Was willst du uns sagen?«
Seine Lippen zuckten, und dann redete er in seiner Muttersprache.
»Bist du es wirklich, Urilla?«
Seine Stimme klang krächzend. Er sprach langsam und schien nach den richtigen Wörtern zu suchen. Offensichtlich hatte er die Sprache des weißen Mannes in letzter Zeit nur selten benutzt.
Sie nickte, und Tränen rannen über ihr Gesicht.
»Ja, Vater. Ich bin es.«
»Ich kann es kaum fassen«, fuhr er, weiterhin langsam und abgehackt sprechend, fort. »Aber doch, ich habe dich erkannt. Als Einauge hinter dir her war.« Sein Gesicht drehte sich zu Martin. »Und hinter ihm.«
»Hast du den Berglöwen erschossen, Vater?«
»Ja.«
»Woher hast du gewußt, daß ich mich in Gefahr befand?«
»Nicht gewußt. Es war Zufall. Ich habe Einauge gejagt. Seit vielen Tagen schon. Zusammen mit Mondauge. Als wir Einauges Spur verloren, haben wir uns getrennt. Ich fand die Spur wieder und verfolgte sie. bis zu dir.«
Seine knotigen Hände ertasteten das Medaillon auf seiner Brust und klappten es auf. Lange betrachtete er die Bilder, bevor er wieder seine Tochter ansah.
»Wo sind die anderen? Eleonor... und die Kinder?«
Hilfesuchend sah Urilla Jacob und Irene an. Aber sie konnten ihr nicht helfen. Betrübt schüttelte Jacob den Kopf.
»Sie sind noch zu Hause, Vater«, log Urilla ihn an. »Sie warten dort auf Nachricht von uns. Sie haben mich vorausgeschickt, um dich zu suchen.«
Hätte sie dem Schwerverletzten sagen sollen, daß sie die einzige Überlebende aus seiner Familie war? Daß sein kleiner Sohn an schlechter Ernährung gestorben war? Daß seine Frau und seine anderen beiden Töchter von Betrunkenen mißbraucht und ermordet worden waren? Daß auch Urilla geschändet worden war und das daraus entstandene Kind hatte wegmachen lassen?
Diese Nachrichten hätten ihn in den Tod stürzen können. Deshalb log Urilla.
»Ich habe euch lange warten lassen, nicht wahr?« fragte der Alte.