Der Indianer folgte jeder seiner Bewegungen mit der Spitze seines Pfeils.
Als Jacob dicht vor dem Mann im Bärenfell stand und in die Jackentasche griff, um Urillas Medaillon herauszuholen, stieß Mondauge laut hervor: »Der Adler soll seine Krallen lassen, wo sie sind!«
Jacob erkannte, daß er fast einen tödlichen Fehler begangen hätte. Seine unbedachte Handbewegung hätte den anderen leicht dazu bringen können, den Pfeil von der Sehne schnellen zu lassen. Auf die kurze Entfernung hätte das hölzerne Geschoß den Treck-Captain durchbohrt wie ein Stück Butter.
»Ich wollte Mondauge nur den Beweis für die Wahrheit meiner Worte zeigen. Darf ich ihn aus der Tasche ziehen?«
Der Indianer machte nur eine knappe Bewegung mit dem Kopf.
Jacob hoffte, daß er dies als Zeichen seines Einverständnisses deuten durfte, und zog langsam mit spitzen Fingern die Kette mit dem Medaillon hervor.
Er öffnete das Medaillon umständlich mit seinen behandschuhten Händen, hielt es dem Indianer hin und sagte:
»Erkennt Mondauge dies?«
»Ja, es ist Grauhaars Medizin. Warum trägt Grauhaar sie nicht?«
»Es ist nicht Grauhaars Medizin, sondern die seiner Tochter. Grauhaars Medizin hängt über seinem Grab.«
»Grauhaar ist tot?«
Zum erstenmal zeichnete sich eine starke Gefühlsregung auf dem Gesicht des Indianers ab.
Jacob nickte.
»Hat Einauge ihn getötet?«
»Nein. Grauhaar hat Einauge getötet, als der Berglöwe meinen Freund angriff, der jetzt schwer verletzt ist und vielleicht auch sterben wird. Grauhaar wurde erschossen, als er uns gegen unsere Feinde half.«
»Eure Feinde?«
»Weiße Männer. Weiße mit gespaltener Zunge. Wir brachten Grauhaar noch zu unserem Treck, zu seiner Tochter, die ihn suchte. Er starb in ihren Armen.«
»Was wollen die Weißen von Mondauge?«
»Mondauge soll uns vor dem Schnee retten. Grauhaar hat gesagt, Mondauge kann uns ins Tal der heißen Wasser führen, wo niemals Schnee fällt.«
»Warum sollte Mondauge das tun?«
»Weil es Grauhaars Wunsch gewesen ist. War Grauhaar nicht Mondauges Freund? Ist es Mondauge gleichgültig, wenn auch Grauhaars Tochter stirbt?«
Der Indianer antwortete eine ganze Weile nicht. Er stand stumm und starr zwischen den Felsen, den Bogen noch immer schußbereit in den Händen. Er wirkte, als hätte die Kälte ihn festfrieren lassen.
Auf einmal ließ er seine Waffe sinken, entspannte langsam die Sehne und steckte den Pfeil zurück in den Köcher auf seinem Rücken.
»Mondauge wird euch helfen«, sagte er und starrte die Fotografien in dem Medaillon an. »Grauhaar hat Mondauges Tochter gerächt. Deshalb wird Mondauge Grauhaars Tochter helfen.«
»Was ist mit Mondauges Tochter?«
»Kleines Reh ist tot. Einauge hat sie gerissen. Grauhaar hat Mondauge begleitet auf dem Kriegspfad, um dem blutigen Treiben von Einauge endlich ein Ende zu setzen.«
»Dann seid ihr gegen den Berglöwen in den Kampf gezogen?«
»Ja.«
Alles, was er auf dem Kriegspfad bei sich hatte, trug der Indianer am Leib. Ohne weitere Umschweife begleitete er Jacob zurück zum Suchtrupp. Die Männer staunten nicht wenig, als ihr Captain und der Mann im Bärenfell Seite an Seite aus dem Schneetreiben auf sie zustapften.
*
Auch im Lager, wo die Frauen inzwischen auf mühsam vom Schnee befreiten Feuerstellen das Abendessen zubereiteten, staunten die Menschen über den Gast, den der Suchtrupp mitbrachte. Jacob und seine Begleiter wurden mit tausend Fragen bestürmt.
»Später«, vertröstete der Deutsche die ihn umdrängenden Menschen. »Mondauge soll erst einmal mit uns essen.« Er sah den Indianer an. »Mondauge mag doch das Essen der Weißen?«
Der Mann im Bärenfell blickte hinaus in den Schneesturm und sagte:
»Bei dem Wetter ißt Mondauge alles.«
Doch es schien im wirklich zu schmecken. Den gebratenen Speck, die Bohnen, das Sodabrot, die Pfannkuchen mit Brombeermarmelade, er verschlang alles in Massen und spülte es mit einer halben Kanne starken Kaffees hinunter. Sein mehrfaches lautes Aufstoßen nach dem Essen war ein hörbares Zeichen seiner satten Zufriedenheit.
Während des ganzen Essens hatte sein Blick an Urilla gehangen. Jede ihrer Bewegungen hatten seine gelben Augen verfolgt.
Als sie das Geschirr abgespült und nach dem schlafenden Martin geschaut hatte und sich wieder zu den anderen Leuten ihres Zuges auf die mit Decken verhüllten Felsen setzte, sagte der Indianer unvermittelt: »Rotes Haar ist wirklich Grauhaars Tochter. Sie bewegt sich wie Grauhaar, ihre Augen blicken wie die von Grauhaar, und sie spricht wie Grauhaar. Mondauge wird ihr und ihren Freunden helfen.«
»Rotes Haar«, wiederholte Urilla versonnen und strich über ihre feuerrote Lockenpracht. »Das ist ein schöner Name. Er gefällt mir.« Sie schaute auf und sah den Indianer an. »Will mir Mondauge eine Frage beantworten?«
»Rotes Haar soll fragen.«
»Wie ist mein Vater zu Mondauge und seinem Volk gekommen?«
»Es ist fünf Winter her, als wir unser Tal verließen, um auf die Jagd zu gehen. Unsere Späher hatten uns eine große Zahl Langohrhirsche gemeldet. Wir fanden die Hirsche nicht, aber viele tote weiße Männer, Frauen und Kinder. Grauhaar war der einzige, der noch lebte. Aber er war sehr schwach. Die Heilerin hat sehr lange gebraucht, bis er wieder auf die Jagd gehen konnte. Einen ganzen Winter und fast einen Sommer. Danach redete er noch oft sehr wirr, und erst mit der Zeit kehrte die Klarheit seines Geistes zurück.«
»Was ist mit den anderen Weißen geschehen?« fragte Jacob. »Mit Grauhaars Begleitern?«
»Ihre Wagen waren in einen steilen Abhang gestürzt. Die meisten Weißen waren zerschmettert worden. Die anderen töteten sich gegenseitig. Sie wollten sich vor den Schmerzen bewahren, vor dem langsamen Sterben. Vielleicht war ihr Geist auch verwirrt wie der von Grauhaar. Ihre Wagen waren am Loch des trüben Wassers vorbeigezogen. Mondauges Volk weiß, daß das Wasser den Geist verwirrt. Die Weißen haben es nicht gewußt.«
»Entsetzlich«, sagte Urilla und schloß bei dem Gedanken an das Schicksal ihres Vaters und seiner Gefährten die Augen. Als sie die Lider wieder hob, fragte sie: »Warum ist mein Vater nicht zu seiner Familie zurückgekehrt, Mondauge?«
»Erst durfte er es nicht. Vor langer Zeit, nach einem blutigen Krieg, hat sich mein Volk entschieden, nichts mit anderen Völkern zu tun zu haben. Grauhaar durfte das Tal der heißen Wasser nicht verlassen, bis wir wußten, ob wir ihm vertrauen konnten. Als wir das wußten und Grauhaar seiner Wege gehen durfte, ist er freiwillig bei uns geblieben. Er sagte, nur in den Bergen sei er wirklich frei.«
»Hat er nie von seiner Familie gesprochen?«
»Nur wenige Male. Er sagte dann stets, dies sei sein anderes Leben gewesen.«
Urilla glaubte zu verstehen. Sein Leben lang hatte ihr Vater geackert und sich krummgelegt, um sich und seine Familie nur mit dem Allernötigsten zu versorgen. Bei den Indianern hatte er sich unbelastet von solchen Sorgen gefühlt, hatte ein ganz neues Leben führen können. Vielleicht hatte auch die Verwirrung, von der Mondauge gesprochen hatte, dazu beigetragen, daß Daniel Anderson nur selten an seine Familie dachte.
Sie war ihrem Vater deshalb nicht böse. Sie konnte es ihm nachfühlen. Vielleicht hätte sie an seiner Stelle ebenso gehandelt, hätte ein beengtes Leben in Armut eingetauscht gegen die Freiheit, Unberührtheit und grenzenlose Weite der Berge.
»Wenn euer Volk nichts mit anderen zu tun haben will, wie kannst du uns dann helfen, Mondauge?« wollte Jacob wissen, der plötzlich ganz besonders hellhörig geworden war. »Heißt das etwa, wir dürfen das Tal der heißen Wasser nie wieder verlassen?«
»Wenn der Stammesrat nicht etwas anderes beschließt, dann nicht«, bestätigte Mondauge.
»Verfluchter Mist!« entfuhr es Sam Kelley.
Mondauge warf ihm einen forschenden Blick zu.