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Während sie noch schrieben und redeten, sahen wir Lazarette und Sterbende; – während sie den Dienst am Staate als das Größte bezeichneten, wußten wir bereits, daß die Todesangst stärker ist. Wir wurden darum keine Meuterer, keine Deserteure, keine Feiglinge – alle diese Ausdrücke waren ihnen ja so leicht zur Hand -, wir liebten unsere Heimat genauso wie sie, und wir gingen bei jedem Angriff mutig vor; – aber wir unterschieden jetzt, wir hatten mit einem Male sehen gelernt. Und wir sahen, daß nichts von ihrer Welt übrig blieb. Wir waren plötzlich auf furchtbare Weise allein; – und wir mußten allein damit fertig werden.

* * *

Bevor wir zu Kemmerich aufbrechen, packen wir seine Sachen ein; er wird sie unterwegs gut brauchen können. Im Feldlazarett ist großer Betrieb; es riecht wie immer nach Karbol, Eiter und Schweiß. Man ist aus den Baracken manches gewohnt, aber hier kann einem doch flau werden. Wir fragen uns nach Kemmerich durch; er liegt in einem Saal und empfängt uns mit einem schwachen Ausdruck von Freude und hilfloser Aufregung. Während er bewußtlos war, hat man ihm seine Uhr gestohlen. Müller schüttelt den Kopf:»Ich habe dir ja immer gesagt, daß man eine so gute Uhr nicht mitnimmt.«Müller ist etwas tapsig und rechthaberisch. Sonst würde er den Mund halten, denn jeder sieht, daß Kemmerich nicht mehr aus diesem Saal herauskommt. Ob er seine Uhr wiederfindet, ist ganz egal, höchstens, daß man sie nach Hause schicken könnte.

»Wie geht’s denn, Franz?«fragt Kropp.

Kemmerich läßt den Kopf sinken.»Es geht ja – ich habe bloß so verfluchte Schmerzen im Fuß.«

Wir sehen auf seine Decke. Sein Bein liegt unter einem Drahtkorb, das Deckbett wölbt sich dick darüber. Ich trete Müller gegen das Schienbein, denn er brächte es fertig, Kemmerich zu sagen, was uns die Sanitäter draußen schon erzählt haben: daß Kemmerich keinen Fuß mehr hat. Das Bein ist amputiert.

Er sieht schrecklich aus, gelb und fahl, im Gesicht sind schon die fremden Linien, die wir so genau kennen, weil wir sie schon hundertmal gesehen haben. Es sind eigentlich keine Linien, es sind mehr Zeichen. Unter der Haut pulsiert kein Leben mehr; es ist bereits herausgedrängt bis an den Rand des Körpers, von innen arbeitet sich der Tod durch, die Augen beherrscht er schon. Dort liegt unser Kamerad Kemmerich, der mit uns vor kurzem noch Pferdefleisch gebraten und im Trichter gehockt hat; – er ist es noch, und er ist es doch nicht mehr, verwaschen, unbestimmt ist sein Bild geworden, wie eine fotografische Platte, auf der zwei Aufnahmen gemacht worden sind. Selbst seine Stimme klingt wie Asche. Ich denke daran, wie wir damals abfuhren. Seine Mutter, eine gute, dicke Frau, brachte ihn zum Bahnhof. Sie weinte ununterbrochen, ihr Gesicht war davon gedunsen und geschwollen. Kemmerich genierte sich deswegen, denn sie war am wenigsten gefaßt von allen, sie zerfloß förmlich in Fett und Wasser. Dabei hatte sie es auf mich abgesehen, immer wieder ergriff sie meinen Arm und flehte mich an, auf Franz draußen achtzugeben. Er hatte allerdings auch ein Gesicht wie ein Kind und so weiche Knochen, daß er nach vier Wochen Tornistertragen schon Plattfüße bekam. Aber wie kann man im Felde auf jemand achtgeben!»Du wirst ja nun nach Hause kommen«, sagt Kropp,»auf Urlaub hättest du mindestens noch drei, vier Monate warten müssen.«

Kemmerich nickt. Ich kann seine Hände nicht gut ansehen, sie sind wie Wachs. Unter den Nägeln sitzt der Schmutz des Grabens, er sieht blauschwarz aus wie Gift. Mir fällt ein, daß diese Nägel weiterwachsen werden, lange noch, gespenstische Kellergewächse, wenn Kemmerich längst nicht mehr atmet. Ich sehe das Bild vor mir: sie krümmen sich zu Korkenziehern und wachsen und wachsen, und mit ihnen die Haare auf dem zerfallenden Schädel, wie Gras auf gutem Boden, genau wie Gras, wie ist das nur möglich -?

Müller bückt sich.»Wir haben deine Sachen mitgebracht, Franz.«

Kemmerich zeigt mit der Hand.»Legt sie unters Bett.«Müller tut es. Kemmerich fängt wieder von der Uhr an. Wie soll man ihn nur beruhigen, ohne ihn mißtrauisch zu machen!

Müller taucht mit einem Paar Fliegerstiefel wieder auf. Es sind herrliche englische Schuhe aus weichem, gelbem Leder, die bis zum Knie reichen und ganz hinauf geschnürt werden, eine begehrte Sache. Müller ist von ihrem Anblick begeistert, er hält ihre Sohlen gegen seine eigenen klobigen Schuhe und fragt:»Willst du denn die Stiefel mitnehmen, Franz?«

Wir denken alle drei das gleiche: selbst wenn er gesund würde, könnte er nur einen gebrauchen, sie wären für ihn also wertlos. Aber wie es jetzt steht, ist es ein Jammer, daß sie hierbleiben; – denn die Sanitäter werden sie natürlich sofort wegschnappen, wenn er tot ist. Müller wiederholt:»Willst du sie nicht hier lassen?«Kemmerich will nicht. Es sind seine besten Stücke.»Wir können sie ja umtauschen«, schlägt Müller wieder vor,»hier draußen kann man so was brauchen.«Doch Kemmerich ist nicht zu bewegen. Ich trete Müller auf den Fuß; er legt die schönen Stiefel zögernd wieder unter das Bett. Wir reden noch einiges und verabschieden uns dann.

»Mach’s gut, Franz.«

Ich verspreche ihm, morgen wiederzukommen. Müller redet ebenfalls davon; er denkt an die Schnürschuhe und will deshalb auf dem Posten sein.

Kemmerich stöhnt. Er hat Fieber. Wir halten draußen einen Sanitäter an und reden ihm zu, Kemmerich eine Spritze zu geben.

Er lehnt ab.»Wenn wir jedem Morphium geben wollten, müßten wir Fässer voll haben -«

»Du bedienst wohl nur Offiziere«, sagt Kropp gehässig. Rasch lege ich mich ins Mittel und gebe dem Sanitäter zunächst mal eine Zigarette. Er nimmt sie. Dann frage ich:»Darfst du denn überhaupt eine machen?«

Er ist beleidigt.»Wenn ihr’s nicht glaubt, was fragt ihr mich -«

Ich drücke ihm noch ein paar Zigaretten in die Hand.»Tu uns den Gefallen -«

»Na, schön«, sagt er. Kropp geht mit hinein, er traut ihm nicht und will zusehen. Wir warten draußen.

Müller fängt wieder von den Stiefeln an.»Sie würden mir tadellos passen. In diesen Kähnen laufe ich mir Blasen über Blasen. Glaubst du, daß er durchhält bis morgen nach dem Dienst? Wenn er nachts abgeht, haben wir die Stiefel gesehen – «

Albert kommt zurück.»Meint ihr -?«fragt er.

»Erledigt«, sagt Müller abschließend.

Wir gehen zu unsern Baracken zurück. Ich denke an den Brief, den ich morgen schreiben muß an Kemmerichs Mutter. Mich friert. Ich möchte einen Schnaps trinken. Müller rupft Gräser aus und kaut daran. Plötzlich wirft der kleine Kropp seine Zigarette weg, trampelt wild darauf herum, sieht sich um, mit einem aufgelösten und verstörten Gesicht, und stammelt:»Verfluchte Scheiße, diese verfluchte Scheiße.«

Wir gehen weiter, eine lange Zeit. Kropp hat sich beruhigt, wir kennen das, es ist der Frontkoller, jeder hat ihn mal. Müller fragt ihn:»Was hat dir der Kantorek eigentlich geschrieben?«

Er lacht:»Wir wären die eiserne Jugend.«Wir lachen alle drei ärgerlich. Kropp schimpft; er ist froh, daß er reden kann. – Ja, so denken sie, so denken sie, die hunderttausend Kantoreks! Eiserne Jugend. Jugend! Wir sind alle nicht mehr als zwanzig Jahre. Aber jung? Jugend? Das ist lange her.

Wir sind alte Leute.

2.

Es ist für mich sonderbar, daran zu denken, daß zu Hause, in einer Schreibtischlade, ein angefangenes Drama»Saul«und ein Stoß Gedichte liegen. Manchen Abend habe ich darüber verbracht, wir haben ja fast alle so etwas Ähnliches gemacht; aber es ist mir so unwirklich geworden, daß ich es mir nicht mehr richtig vorstellen kann. Seit wir hier sind, ist unser früheres Leben abgeschnitten, ohne daß wir etwas dazu getan haben. Wir versuchen manchmal, einen Überblick und eine Erklärung dafür zu gewinnen, doch es gelingt uns nicht recht. Gerade für uns Zwanzigjährige ist alles besonders unklar, für Kropp, Müller, Leer, mich, für uns, die Kantorek als eiserne Jugend bezeichnet. Die älteren Leute sind alle fest mit dem Früheren verbunden, sie haben Grund, sie haben Frauen, Kinder, Berufe und Interessen, die schon so stark sind, daß der Krieg sie nicht zerreißen kann. Wir Zwanzigjährigen aber haben nur unsere Eltern und manche ein Mädchen. Das ist nicht viel – denn in unserm Alter ist die Kraft der Eltern am schwächsten, und die Mädchen sind noch nicht beherrschend. Außer diesem gab es ja bei uns nicht viel anderes mehr; etwas Schwärmertum, einige Liebhabereien und die Schule; weiter reichte unser Leben noch nicht. Und davon ist nichts geblieben.