»Ich bin sehr glücklich, daß du wieder sehen kannst. Blindheit muß schrecklich sein«, erwiderte sie. »Es war ziemlich . . . Jedenfalls konnte ich es nicht verhindern.«
»Ich weiß«, sagte ich und dachte an ihr Lachen von der anderen Seite der Dunkelheit bei einem der Jahrestage des großen Ereignisses. »Ich weiß.«
Ich trat ans Fenster und öffnete es in dem sicheren Wissen, daß der Regen nicht zu uns hereindringen würde. Ich liebe den Geruch von Unwettern.
»Random, hast du etwas Interessantes erfahren über den mutmaßlichen Briefeschreiber?« erkundigte ich mich.
»Eigentlich nicht«, sagte er. »Ich habe Erkundigungen eingezogen. Niemand scheint an besagtem Ort zu besagter Zeit jemanden gesehen zu haben.«
»Ich verstehe. Vielen Dank. Vielleicht sprechen wir uns später noch.«
»Schön«, sagte er. »Ich werde ohnehin den Abend in meinem Zimmer verbringen.«
Ich nickte, wandte mich um, lehnte mich mit dem Rücken gegen die Fensterbank und beobachtete Flora. Random schloß die Tür leise hinter sich. Eine halbe Minute lang lauschte ich auf den Regen.
»Was willst du mit mir anstellen?« wollte Flora schließlich wissen.
»Anstellen?«
»Du bist neuerdings in der Lage, alte Schulden einzutreiben. Vermutlich soll es damit jetzt losgehen.«
»Vielleicht«, sagte ich. »Doch die meisten Dinge hängen von anderen Dingen ab – das ist hier und jetzt nicht anders.«
»Was soll das heißen?«
»Gib mir, was ich will – dann werden wir sehen. Ab und zu kann ich sogar nett sein.«
»Was willst du von mir?«
»Die Geschichte, Flora. Fangen wir einmal damit an. Wie du in jenem Schatten auf der Erde meine Wächterin wurdest. Alle wichtigen Einzelheiten. Wie lautete die Vereinbarung? Was hattet ihr abgesprochen? Das ist alles.«
Sie seufzte.
»Es begann . . .«, sagte sie. »Ja . . . es war in Paris, bei der Party eines gewissen Monsieur Focault. Etwa drei Jahre vor den Schrecknissen . . .«
»Moment!« sagte ich. »Was tatest du dort?«
»Ich hatte mich etwa fünf Jahre Ortszeit in jener Schattengegend aufgehalten«, sagte sie. »Ich war auf der Suche nach etwas Neuem herumgewandert, nach etwas, das meine Unruhe stillen konnte. Und jenen Ort fand ich damals ohne besondere Umstände. Ich ließ mich von meinen Wünschen lenken und folgte meinen Instinkten.«
»Ein seltsamer Zufall.«
»Nicht wenn man die darauf verwendete Zeit bedenkt – und die vielen Reisen, die wir im allgemeinen machen. Dieser Schatten war, wenn du so willst, mein Avalon, mein Amber-Ersatz, meine zweite Heimat. Nenn ihn, wie du willst, jedenfalls bist du damals an jenem Oktoberabend mit der kleinen Rothaarigen bei der Party aufgekreuzt – ich glaube, sie hieß Jacqueline.«
Ja, das brachte Erinnerungen aus der Tiefe hoch, Erinnerungen, auf die ich sehr lange nicht mehr zurückgegriffen hatte. Dabei erinnerte ich mich an Jacqueline viel klarer als an Focaults Party.
»Sprich weiter.«
»Wie gesagt«, fuhr sie fort. »Ich war dort. Du kamst später. Natürlich wurde ich sofort auf dich aufmerksam. Wenn man lange genug lebt und ziemlich viel reist, trifft man gelegentlich auf eine Person, die große Ähnlichkeit mit einem Bekannten hat. Das war mein Gedanke nach der ersten Aufregung. Bestimmt war das nur ein Doppelgänger! Es war sehr viel Zeit vergangen. Ich war lange ohne ein Wort von dir gewesen. Doch wir alle haben unsere Geheimnisse und gute Gründe für diese Geheimnisse. Hier war vielleicht eines deiner Geheimnisse. Ich sorgte dafür, daß wir einander vorgestellt wurden, und hatte anschließend große Mühe, dich für ein paar Minuten von dem rothaarigen Teufel zu trennen. Und du bestandest darauf, Fenneval zu heißen – Cordell Fenneval. Ich war unsicher. Ich konnte mir nicht schlüssig werden, ob du ein Doppelgänger warst oder du selbst in einer deiner Rollen. Allerdings ging mir auch die dritte Möglichkeit durch den Kopf – daß du nämlich eine ausreichend lange Zeit in benachbarten Schatten gelebt hattest, um eigene Schatten auszuwerfen. Vielleicht hätte ich die Party im Ungewissen verlassen, wenn Jacqueline nicht mir gegenüber deine Kräfte herausgekehrt hätte. Dies ist nun nicht gerade ein alltägliches Gesprächsthema zwischen Frauen, und ihr Ton überzeugte mich, daß sie von einigen Dingen, die du getan hattest, wirklich beeindruckt gewesen war. Ich horchte sie noch ein wenig aus und erkannte, daß es sich um Taten handelte, die durchaus im Rahmen deiner Fähigkeiten lagen. Das schloß die Möglichkeit eines Doppelgängers aus. Also entweder du selbst oder ein Schatten. Und selbst wenn Cordell nicht Corwin war – hier hatte ich nun zumindest einen Hinweis darauf, daß du in dieser Schattengegend warst oder gewesen warst – der erste echte Anhaltspunkt für deinen Verbleib. Ich mußte der Sache nachgehen. Ich beschloß, dir auf der Spur zu bleiben, ich ließ Nachforschungen über deine Vergangenheit anstellen. Je mehr Leute ich befragte, um so rätselhafter wurde die Sache. Nach mehreren Monaten war ich nicht weiter als am Anfang. Es gab genügend unklare Momente, um beide Varianten möglich zu machen. Die Frage klärte sich endgültig im folgenden Sommer, als ich mich eine Zeitlang in Amber aufhielt. Ich sprach mit Eric über die seltsame Angelegenheit . . .«
»Ja?«
»Nun . . . er . . . verschloß sich dieser Möglichkeit nicht.«
Sie schwieg und legte die Handschuhe auf dem Stuhl neben sich zurecht.
»Aha«, sagte ich. »Was hat er gesagt?«
»Daß du es vielleicht wirklich wärst«, sagte sie. »Er teilte mir mit, es habe – einen Unfall gegeben.«
»Wirklich?«
»Also – nein«, räumte sie ein. »Er sprach nicht von einem Unfall. Er sagte, es wäre zu einem Kampf gekommen, und er hätte dich verletzt. Er wäre der Ansicht gewesen, du würdest sterben, und wollte nicht damit belastet werden. Folglich brachte er dich in die Schatten und ließ dich an jenem Ort zurück. Und nach langer Zeit kam er zu dem Schluß, daß du tot sein müßtest, daß der Streit zwischen euch endgültig ausgetragen sei. Meine Mitteilung beunruhigte ihn natürlich sehr. Er verpflichtete mich zur Verschwiegenheit und schickte mich zurück, damit ich dich im Auge behalte. Schließlich hatte ich einen guten Grund für meine Anwesenheit dort, da ich bereits überall herumerzählt hatte, wie gut mir diese Schattenwelt gefiel.«
»Du hast ihm dein Schweigen sicher nicht umsonst versprochen, Flora. Was hat er dir gegeben?«
»Er gab mir sein Wort, daß er mich nicht vergessen würde, wenn er jemals hier in Amber etwas zu sagen hätte.«
»Das war ein wenig leichtsinnig von dir«, sagte ich. »Schließlich hattest du trotz allem eine Handhabe gegen ihn – das Wissen um den Aufenthaltsort eines anderen Thronanwärters und um Erics Rolle bei der Versetzung des Rivalen dorthin.«
»Das ist richtig. Doch das glich sich irgendwie aus – und ich hätte meine Komplicenschaft zugeben müssen, sobald ich darüber sprechen wollte.«
Ich nickte.
»Mager, aber nicht unmöglich«, sagte ich. »Aber hast du angenommen, er würde mich weiterleben lassen, wenn er wirklich eine Chance auf den Thron erhielt?«
»Darüber haben wir nie gesprochen. Niemals!«
»Aber du hast dir doch bestimmt Gedanken darüber gemacht.«
»Ja, später«, sagte sie. »Und ich kam zu dem Schluß, daß er vermutlich gar nichts tun würde. Schließlich sah es inzwischen so aus, als hättest du das Gedächtnis verloren. Es gab nicht den geringsten Grund, dir etwas anzutun, solange du harmlos warst.«
»Du bist also geblieben, um mich zu bewachen, um dafür zu sorgen, daß ich harmlos blieb?«
»Ja.«
»Was hättest du getan, wenn erkennbar geworden wäre, daß ich mein Gedächtnis zurückerhielt?«
Nun sah sie mich an und wandte den Kopf ab.
»Ich hätte es Eric gemeldet.«
»Und was hätte er getan?«
»Keine Ahnung.«
Ich lachte auf, und sie errötete. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich Flora das letztemal in Verlegenheit gebracht hatte.
»Ich will hier nicht auf dem Offensichtlichen herumreiten«, sagte ich. »Schön, du bist also geblieben, du hast mich beobachtet. Was dann? Was passierte dann?«