Entweder war sie ehrlich oder mit diesen Mitteln nicht zu überführen, überlegte ich. Wie dem auch immer – ich verschwendete meine Zeit. So kam ich nicht weiter. Außerdem sollte ich den Unfall lieber auf sich beruhen lassen, ehe sie sich Gedanken zu machen begann über seine Bedeutung für mich. Wenn mir noch etwas entgangen war, wollte ich es als erster finden.
»Komm mit«, sagte ich.
»Wohin?«
»Ich möchte, daß du etwas für mich identifizierst. Den Grund sage ich dir hinterher.«
Sie erhob sich und folgte mir. Ich führte sie durch den Flur zu der Leiche, ehe ich ihr die Geschichte mit Caine vortrug. Sie betrachtete ziemlich ungerührt den Toten. Dann nickte sie.
»Ja«, sagte sie und setzte hinzu: »Selbst wenn ich das Wesen nicht kenne, würde ich es gern behaupten – für dich.«
Ich knurrte etwas Unverbindliches. Familientreue rührt mich immer an. Ich war mir nicht schlüssig, ob sie mir glaubte, was ich über Caines Tod erzählt hatte, doch letztlich war mir das nicht wichtig. Ich erzählte ihr nichts über Brand, über den sie offenbar auch nichts Neues wußte. Als alles gesagt war, war ihr einziger Kommentar: »Das Juwel steht dir gut. Was ist mit dem Kopfschmuck?«
»Reden wir nicht davon – dazu ist es zu früh«, erwiderte ich.
»Was immer dir meine Unterstützung nützen kann . . .«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß.«
Mein Mausoleum ist ein ruhiger Ort. Es steht allein in einer Felsnische, auf drei Seiten vor den Elementen geschützt, umgeben von aufgehäufter Muttererde, in der zwei knorrige Bäume, verschiedene Büsche, Unkräuter und Bergefeupflanzen wurzeln. Die Stelle liegt auf der anderen Seite des Kolvir, etwa zwei Meilen unterhalb des Gipfels. Das eigentliche Mausoleum ist ein langes, niedriges Gebäude mit zwei Bänken an der Vorderfront; der Efeu hat einen großen Teil des Bauwerks eingehüllt und verdeckt gnädig die bombastischen Äußerungen, die unter meinem Namen in die Steinflächen eingemeißelt sind. Verständlicherweise ist das Bauwerk die meiste Zeit verlassen.
An jenem Abend jedoch begaben sich Ganelon und ich dorthin, begleitet von einem guten Vorrat an Wein und Brot und kaltem Fleisch.
»Du hast ja gar nicht gescherzt!« sagte er, nachdem er abgestiegen war, den Efeu zur Seite gestreift und im Mondlicht die Worte gelesen hatte, die dort angebracht waren.
»Natürlich nicht«, gab ich zurück, stieg ebenfalls ab und kümmerte mich um die Pferde. »Dies ist mein Haus.«
Ich band die Tiere an einen Busch in der Nähe, nahm die Beutel mit Vorräten ab und trug sie zur nächsten Bank. Ganelon setzte sich zu mir, als ich die erste Flasche öffnete und zwei Gläser füllte.
»Ich verstehe das noch immer nicht«, sagte er und nahm sein Getränk entgegen.
»Was gibt es da zu verstehen? Ich bin tot und liege hier begraben. Dies ist mein Zenotaph – das Monument, das errichtet wird, wenn eine Leiche nicht zu finden ist. Ich habe erst kürzlich von dem Bauwerk erfahren. Es wurde vor mehreren Jahrhunderten gebaut, als man zu dem Schluß kam, daß ich nicht zurückkehren würde.«
»Irgendwie unheimlich«, bemerkte er. »Was ist denn da drin?«
»Nichts. Allerdings hat man rücksichtsvollerweise eine Nische gebaut und einen Sarg hineingestellt, für den Fall, daß meine Überreste doch noch auftauchten. So war man auf alles vorbereitet.«
Ganelon machte sich ein belegtes Brot.
»Wessen Einfall war denn das?«
»Random meint, Brand oder Eric hätten die Sprache darauf gebracht. Niemand erinnert sich genau daran. Damals hielten wohl alle den Vorschlag für gut.«
Er lachte leise – ein unheimlicher Laut, der ausgezeichnet zu seinem faltigen, vernarbten, rotbärtigen Wesen paßte.
»Was wird denn jetzt daraus?«
Ich zuckte die Achseln.
»Vermutlich sind einige der Ansicht, es sei schade, das Bauwerk verkommen zu lassen; sie hätten es am liebsten, wenn ich es füllte. Doch bis es soweit ist, haben wir hier ein hübsches Fleckchen zum Besaufen. Jedenfalls hatte ich meinen Antrittsbesuch hier noch nicht gemacht.«
Auch ich richtete mir zwei Brote und verzehrte sie. Dies war die erste wirkliche Atempause, die ich seit meiner Rückkehr hatte – und vielleicht auf absehbare Zeit die letzte. Ich wußte es nicht. In der letzten Woche hatte ich jedenfalls keine Gelegenheit gehabt, mich mit Ganelon in Ruhe zu unterhalten, obwohl er einer der wenigen Menschen war, denen ich wirklich vertraute. Ich wollte ihm alles erzählen. Ich konnte nicht anders. Ich mußte mit jemandem sprechen, der nicht damit zu tun hatte, wie alle übrigen. Und ich trug ihm meine Sorgen vor.
Der Mond bewegte sich ein gutes Stück, und die Glasscherben in meiner Krypta vermehrten sich.
»Wie haben die anderen darauf reagiert?« fragte er schließlich.
»Wie nicht anders zu erwarten«, gab ich zurück. »Ich wußte genau, daß mir Julian kein Wort geglaubt hat – obwohl er das behauptete. Er weiß, wie ich zu ihm stehe, und ist nicht in der Lage, mich herauszufordern. Ich glaube auch nicht, daß Benedict mir glaubt, doch aus ihm wird man nicht so recht schlau. Er wartet seine Zeit ab, doch ich hoffe, daß er sich wenigstens die Mühe gibt, meine Argumente abzuwägen. Was Gérard angeht, so habe ich das Gefühl, daß jetzt der entscheidende Anstoß gegeben worden ist – wenn er mir bisher noch vertraut hat, ist es damit nun endgültig vorbei. Dennoch wird er morgen früh nach Amber zurückkehren, um mich zu dem Wäldchen zu begleiten. Wir wollen Caines Leiche heimholen. Ich wollte das Ganze zwar nicht zu einer Safari werden lassen, doch ein Familienmitglied sollte wenigstens dabei sein. Deirdre nun – sie schien ganz zufrieden zu sein. Ich bin sicher, daß sie mir kein Wort geglaubt hat. Aber das ist auch nicht erforderlich. Sie hat immer auf meiner Seite gestanden und Caine nie gemocht. Ich würde sagen, sie ist froh, daß ich offenbar meine Position konsolidiere. Ob Llewella mir geglaubt hat oder nicht, weiß ich nicht. Soweit ich ausmachen kann, ist es ihr ziemlich gleichgültig, was wir anderen miteinander anstellen. Und was Fiona betrifft, so schien sie lediglich amüsiert zu sein. Doch sie steht seit jeher irgendwie über den Dingen. Man weiß nie genau, was sie wirklich denkt.«
»Hast du den anderen schon von der Sache mit Brand erzählt?«
»Nein. Ich habe mich auf Caine beschränkt und ihnen gesagt, sie sollten morgen abend alle nach Amber kommen. Bei dieser Gelegenheit werden wir dann auf Brand zu sprechen kommen. Ich habe da eine Idee, die ich ausprobieren möchte.«
»Du hast dich mit allen durch die Trümpfe in Verbindung gesetzt?«
»Richtig.«
»Deswegen wollte ich dich schon immer mal fragen. In der Schattenwelt, in der wir vor einiger Zeit Waffen kauften, gibt es Telefone . . .«
»Ja?«
»Während unseres Aufenthalts dort erfuhr ich von Abhörmöglichkeiten und so weiter. Was meinst du – ist es vielleicht möglich, die Trümpfe anzuzapfen?«
Ich begann zu lachen, hörte aber schleunigst auf, als mir einige Folgerungen seines Gedankens bewußt wurden. »Keine Ahnung«, sagte ich. »Ein Großteil von Dworkins Arbeit liegt noch im Dunkeln. Bisher bin ich gar nicht auf den Gedanken gekommen. Ich jedenfalls habe es noch nicht versucht. Aber ich frage mich . . .«
»Weißt du, wie viele Kartenspiele es gibt?«
»Nun, jeder in der Familie hat ein oder zwei Kartensätze, und in der Bibliothek befand sich etwa ein Dutzend Ersatzspiele. Ich weiß nicht, ob es woanders noch Karten gibt.«
»Ich habe den Eindruck, als ließe sich eine Menge erfahren, wenn man einfach nur zuhört.«
»Ja. Vaters Spiel, Brands Spiel, mein erstes Spiel, das Spiel, das Random verloren hat . . . Hölle! Wir wissen heute wirklich nicht, wo eine Reihe von Kartensätzen geblieben sind. Aber ich habe keine Ahnung, was ich nun tun soll. Vermutlich sind eine Inventur und ein paar Versuche angebracht. Vielen Dank für deinen Hinweis.«
Er nickte, und wir tranken eine Zeitlang stumm vor uns hin.