»Das bin ich nicht«, versicherte ich.
»Egal – du hörst dir an, was ich zu sagen habe«, sagte er. »Es wird kommen, wie es kommen muß. Wenn du während deiner langen Abwesenheit für diesen Stand der Dinge gesorgt und dabei vielleicht sogar Vater und Brand zum eigenen Vorteil von der Bühne geschafft hast, dann setze ich das mit dem Versuch gleich, jeglichen Widerstand in der Familie gegen deine Machtergreifung auszuschalten.«
»Wenn das so wäre – hätte ich mich dann Eric ausgeliefert, um mich blenden und gefangennehmen zu lassen?«
»Hör mich zu Ende an!« sagte er. »Vielleicht hast du ja Fehler gemacht, die zu diesen Ereignissen führten. Das ist inzwischen egal. Du magst so unschuldig sein, wie du sagst, oder denkbar schuldig. Sieh in die Schlucht hinab, Corwin. Das ist alles. Schau hinab auf die schwarze Straße. Der Tod steht am Ende deines Weges, wenn diese Straße dein Werk ist. Ich habe dir wieder einmal meine Kräfte bewiesen, die du vielleicht vergessen hattest. Ich kann dich töten, Corwin. Und sei dir nicht zu sicher, daß dich deine Klinge schützen würde, wenn ich noch einmal Hand an dich legen kann. Ich werde rücksichtslos sein, um mein Versprechen einzulösen. Und dieses Versprechen lautet, daß ich dich töte, sobald ich erfahre, daß du wirklich schuldig bist. Du solltest dir außerdem klarmachen, daß mein Leben geschützt ist, Corwin, denn es ist jetzt mit dem deinen verbunden!«
»Wie meinst du das?«
»In diesem Augenblick sind alle anderen durch meinen Trumpf bei uns – sie beobachten uns und hören jedes Wort. Du kannst jetzt nicht mehr für meine Beseitigung sorgen, ohne der gesamten Familie deine Absichten zu offenbaren. Wenn ich meineidig sterbe, kann mein Versprechen dennoch gehalten werden.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Und wenn jemand anders dich umbringt? Damit beseitigt er zugleich mich. Dann bleiben noch Julian, Benedict, Random und die Mädchen für die Barrikaden. Auf diese Weise steht der große Unbekannte, wer immer er ist, noch besser da. Wer ist überhaupt auf diese Sache gekommen?«
»Ich! Ich allein!« sagte er, und ich spürte, wie sich seine Hände verkrampften, wie seine Arme zitterten. »Du versuchst nur wieder alles durcheinanderzubringen – wie immer!« stöhnte er. »Es ist alles erst schlimm geworden, als du zurückkamst! Verdammt, Corwin! Ich glaube, es ist alles deine Schuld!«
Dann schleuderte er mich in die Luft.
»Unschuldig, Gérard!« Mehr brachte ich in diesem Augenblick nicht heraus.
Im nächsten Augenblick fing er mich auf – ein gewaltiger Griff, der seine Schultern erbeben ließ – und zog mich vom Abgrund zurück. Er schwang mich landeinwärts um sich herum und stellte mich auf die Füße. Dann entfernte er sich in Richtung der Kiesgrube, in der wir gekämpft hatten. Ich folgte ihm, und wir suchten unsere Sachen zusammen.
Als er seinen großen Gürtel festmachte, sah er mich an und blickte wieder fort.
»Wir reden nicht mehr darüber«, sagte er.
»Schön.«
Ich machte kehrt und ging zu den Pferden. Wir stiegen auf und setzten unseren Weg fort.
Die Quelle plätscherte ihre leise Musik in dem Wäldchen. Die Sonne flocht Lichtlinien zwischen den Bäumen. Auf dem Boden schimmerte noch etwas Tau. Die Grasstücke, die ich für Caines Grab ausgestochen hatte, fühlten sich feucht an.
Ich holte den Spaten, den ich im Gepäck hatte, und öffnete das Grab. Wortlos half mir Eric, den Toten auf das Stück Segeltuch zu legen, das wir zu diesem Zweck mitgebracht hatten. Wir falteten das Tuch über dem Toten zusammen und nähten es mit großen Stichen zu.
»Corwin! Schau!« Gérards Stimme war ein Flüstern; seine Hand schloß sich um meinen Ellbogen.
Ich folgte seinem Blick und erstarrte. Keiner von uns beiden bewegte sich, während wir die Erscheinung beobachteten – ein sanftes weißes Licht hüllte sie ein, als wäre sie mit Federn bedeckt, nicht mit Fell – die winzigen Hufe schimmerten golden, ebenso das dünne, gedrechselt wirkende Horn, das dem schmalen Kopf entragte. Das Geschöpf stand auf einem Felsbrocken und fraß von den Flechten, die dort wuchsen. Die Augen, die sich hoben und in unsere Richtung blickten, waren hellgrün. Einige Sekunden lang schloß es sich unserer Reglosigkeit an. Dann machte es eine schnelle, nervöse Bewegung mit den Vorderhufen, ließ sie durch die Luft wirbeln und dreimal auf das Gestein schlagen, dann verschwamm es vor unseren Augen und verschwand wie eine Schneeflocke, lautlos, im Wald zu unserer Rechten.
Ich richtete mich auf und ging zu dem Stein. Gérard folgte mir. Im Moos machte ich die winzigen Hufspuren aus.
»Wir haben es also wirklich gesehen«, bemerkte Gérard.
Ich nickte.
»Wir haben etwas gesehen. Hast du die Erscheinung schon einmal beobachtet?«
»Nein. Du?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Julian behauptet, er hätte das Geschöpf einmal beobachtet«, sagte ich. »Aus der Ferne. Seinen Worten zufolge haben sich die Hunde geweigert, die Verfolgung aufzunehmen.«
»Es war wunderschön! Der lange seidenweiche Schwanz, die schimmernden Hufe . . .«
»Ja. Vater hat es stets als gutes Omen genommen.«
»Das würde ich auch gern tun.«
»Ein seltsamer Augenblick für so einen Auftritt . . . Nach all den Jahren . . .«
Wieder nickte ich.
»Gibt es jetzt besondere Vorschriften? Immerhin ist es ja unser Schutzgeist und so weiter . . . Müssen wir jetzt etwas tun?«
»Wenn, dann hat mir Vater nie davon erzählt«, sagte ich und tätschelte den Stein, auf dem es erschienen war. »Wenn du eine Wende unseres Glück anzeigst, wenn du uns Gutes verheißest, dann danken wir dir, Einhorn«, fuhr ich fort. »Und selbst wenn nicht, möchten wir dir für den Glanz deiner Gesellschaft in einem düsteren Augenblick danken.«
Wir tranken aus dem Teich, machten das traurige Bündel auf dem Rücken des dritten Pferdes fest und führten unsere Tiere am Zügel, bis wir den Ort verlassen hatten, wo es bis auf das Wasser sehr ruhig geworden war.
6
Die Feiern des Lebens gehen ihre ewige Runde, der Mensch schmiegt sich immer wieder an den Busen der Hoffnung, und zwischen Regen und Traufe gibt es oft nur wenige trockene Plätzchen - das war an jenem Abend die Summe der Weisheit meines langen Lebens, gefördert von einer Stimmung kreativer Nervosität, kommentiert von Random mit einem Nicken und einem lächelnd vorgebrachten Kraftausdruck.
Wir saßen in der Bibliothek, und ich hockte auf der Kante des großen Tisches. Random nahm den Stuhl zu meiner Rechten ein. Gérard stand am anderen Ende des Raumes und betrachtete einige Waffen, die dort an der Wand hingen. Vielleicht interessierte er sich auch für Reins Stich des Einhorns. Wie auch immer - ähnlich wie wir ignorierte er Julian, der in einem Sessel neben den Vetrinen saß, mit ausgestreckten Beinen, die er an den Fußgelenken übereinandergeschlagen hatte, mit verschränkten Armen, den Blick auf seine schuppigen Stiefel konzentriert. Fiona – etwa fünf Fuß und zwei Zoll groß – starrte mit grünen Augen in Floras blaue Augen, während sich die beiden neben dem Kamin unterhielten; ihr Haar war ein mehr als ausreichender Ersatz für den leeren Kamin, loderte es doch förmlich und erinnerte mich wie stets an etwas, von dem der Maler soeben zurückgetreten war, Pinsel und Farbe beiseitelegend, hinter seinem Lächeln die ersten Fragen formulierend. Die Stelle an ihrem Hals, wo sein Daumen das Schlüsselbein angedeutet hatte, schien mir wie immer das Werk eines Meisters zu sein, besonders wenn sie fragend oder herablassend den Kopf hob, um uns Größere anzuschauen. In diesem Augenblick lächelte sie schwach; zweifellos spürte sie meinen Blick mit ihrem fast hellsichtig zu nennenden Wahrnehmungsvermögen, dessen Erkenntnis doch nicht verhindern kann, daß man immer wieder davon aufgestört wird. Llewella saß in einer Ecke und tat, als lese sie ein Buch; sie hatte uns den Rücken zugewandt; ihre grünen Locken bewegten sich etliche Zoll über dem dunklen Kragen. Ob ihre Zurückhaltung auf Feindseligkeit, Nervosität wegen Entfremdung oder nur Vorsicht zurückzuführen war, wußte ich nie genau zu sagen. Wahrscheinlich spielten alle Elemente mit hinein. Sie war nicht allzu oft in Amber anzutreffen.