»Schön.«
Ich zog mich auf den Stuhl hinter dem Tisch zurück, und Random setzte sich auf die Kante des seinen. Ich machte es mir bequem und hörte noch einmal die Geschichte seiner Kontaktaufnahme mit Brand und seines Rettungsversuchs. Es war eine gekürzte Version ohne Mutmaßungen, die mich eigentlich seit dem Augenblick nicht wieder losgelassen hatten, seit Random sie mir eingepflanzt hatte. Doch trotz der Auslassung bekamen die anderen die möglichen Weiterungen durchaus mit, das wußte ich. Dies war der Hauptgrund, weshalb ich Random sofort das Wort ergreifen ließ. Hätte ich nur den Versuch unternommen, meinen Verdacht vorzutragen und zu untermauern, wäre man zweifellos der Ansicht gewesen, ich huldigte dem überlieferten Brauch, die Aufmerksamkeit von mir selbst abzulenken – eine Überlegung, die sofort dazu führen mußte, daß sich die Aufnahmebereitschaft mir gegenüber auf Null senkte. Auf diese Weise jedoch mochten die anderen zwar der Meinung sein, Random würde nur die Dinge sagen, die ich ihn sagen lassen wollte, aber sie würden ihn bis zum Ende anhören und sich die ganze Zeit fragen, was das alles sollte. Sie würden sich mit den vorgetragenen Ideen befassen und zu erkennen versuchen, weshalb ich die Konferenz einberufen hatte. Sie würden sich soviel Zeit nehmen, daß die Theorien Wurzeln schlagen konnten, vorbehaltlich eines späteren Beweises. Und sie würde sich fragen, ob wir diese Beweise vorlegen konnten. Dieselbe Frage stellte ich mir auch.
Während ich wartete und mir Gedanken machte, beobachtete ich die anderen. Mehr noch als mein Mißtrauen erforderte es die schlichte Neugier, daß ich diese Gesichter nach Reaktionen und Hinweisen absuchte, soweit ich das vermochte – Gesichter, die ich besser kannte als alle anderen. Natürlich verrieten sie mir nichts. Vielleicht stimmte es tatsächlich, daß man sich einen Menschen nur beim ersten Zusammentreffen richtig ansieht und danach beim Wiedererkennen jeweils nur ein paar geistige Kürzel absolviert. Mein Gehirn ist faul genug, um dieser These ihren Wahrscheinlichkeitsgehalt zuzubilligen; es nutzt seine Fähigkeit der Abstraktion, um, wo immer möglich, Arbeit zu vermeiden. Diesmal zwang ich mich zum richtigen Hinschauen – aber es nützte trotzdem nichts. Julian behielt seine etwas gelangweilte, leicht amüsierte Maske auf. Gérard wirkte abwechselnd überrascht, wütend und bedrückt. Benedict sah einfach nur düster und mißtrauisch aus. Llewella so trauig und unwägbar wie eh und je. Deirdre machte einen abwesenden Eindruck, Flora einen ergebenen, und Fiona sah sich in der Runde um und stellte ihren eigenen Katalog an Reaktionen zusammen.
Die einzige Schlußfolgerung, die ich nach einiger Zeit zu ziehen vermochte, war die, daß Random Eindruck machte. Zwar verriet sich niemand, doch ich sah, wie die Langeweile verschwand, wie das alte Mißtrauen wich,, wie neues Mißtrauen erwachte. Das Interesse meiner Geschwister war geweckt, fast eine Art Faszination. Schließlich hatte jeder seine Fragen auf der Zunge. Zuerst nur wenige, dann ein ganzer Schwall.
»Halt!« ging ich schließlich dazwischen. »Laßt ihn zu Ende erzählen. Die ganze Geschichte. Damit werden einige Fragen gleich beantwortet. Die anderen könnt ihr hinterher noch loswerden.«
Es wurde genickt und geknurrt, und Random sprach weiter. Er schilderte schließlich unseren Kampf gegen die Fremden bei Flora und deutete an, daß sie aus derselben Ecke kamen wie der Bursche, der Caine umgebracht hatte. Flora bestätigte dieses Detail.
Als dann Fragen gestellt wurden, beobachtete ich die Anwesenden intensiv. Solange es ihnen nur um Randoms Geschichte ging, war alles in Ordnung. Doch ich wollte die Dinge nicht so weit kommen lassen, daß man spekulierte, ob etwa einer von uns hinter der Sache steckte. Sobald es dazu kam, wurde bestimmt auch von mir gesprochen und der Möglichkeit, daß ich meine Spuren zu verwischen trachtete. Dies konnte zu bösen Worten und zu einer Stimmung führen, die ich nun wirklich nicht heraufbeschwören wollte. Da war es schon besser, zunächst die Beweisgrundlage zu schaffen, um späteren Vorhaltungen aus dem Weg zu gehen, den Missetäter nach Möglichkeit sofort einzukreisen und meine Position auf der Stelle zu festigen.
Ich paßte also auf und wartete meine Zeit ab. Als ich das Gefühl hatte, daß der entscheidende Augenblick nahe herangetickt war, hielt ich die Uhr an.
»All unser Reden, all unsere Vermutungen wären nicht erforderlich«, sagte ich, »wenn wir hinsichtlich der Tatsachen ein klares Bild hätten. Es gibt vielleicht eine Möglichkeit, sich diese Klarheit zu verschaffen – und zwar auf der Stelle. Deshalb seid ihr alle hier.«
Das hatte die gewünschte Wirkung. Ich hatte sie gepackt. Sie waren voll da. Aufmerksam. Bereit. Vielleicht sogar willens.
»Ich schlage vor, wir versuchen Brand zu erreichen und nach Hause zu holen«, sagte ich. »Jetzt.«
»Wie?« fragte mich Benedict.
»Durch die Trümpfe.«
»Das hat man schon versucht«, meinte Julian. »Auf diese Weise ist er nicht ansprechbar. Keine Antwort.«
»Ich meine nicht den gewöhnlichen Gebrauch der Trümpfe«, erklärte ich. »Ich habe euch gebeten, heute abend einen vollen Satz des Spiels mitzubringen. Ihr habt die Karten mit?«
Sie nickten.
»Gut«, sagte ich. »Holen wir Brands Trumpf heraus. Ich schlage vor, daß wir ihn zu neunt gleichzeitig anzusprechen versuchen.«
»Ein interessanter Gedanke«, bemerkte Benedict.
»Ja«, stimmte Julian zu, nahm seine Karten heraus und blätterte sie durch. »Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Vielleicht gewinnen wir dadurch zusätzliche Kraft. Man kann nie wissen.«
Ich fand Brands Trumpf. Ich wartete, bis auch die anderen das entsprechende Bild vor sich hatten. Dann sagte ich: »Wir wollen uns koordinieren. Sind alle bereit?«
Achtmal Zustimmung.
»Dann los. Versucht es. – Jetzt!«
Ich betrachtete meine Karte. Brands Gesichtszüge ähnelten den meinen, doch er war kleiner und schmaler gebaut. Sein Haar erinnerte eher an Fiona. Er trug einen grünen Reitanzug und saß auf einem weißen Pferd. Wie lange war das jetzt her? Ich überlegte. Brand war stets ein Träumer gewesen, ein Mystiker, ein Poet – stets desillisioniert oder aufgekratzt, zynisch oder vertrauensselig. Im breiten Mittelfeld schien für seine Gefühle kein Raum zu sein. Manisch-depressiv – das ist eine zu vage Bezeichnung für seinen vielschichtigen Charakter, doch mag das Wort eine gewisse Zielrichtung andeuten, die Vielzahl von Fähigkeiten, mit denen sein Lebensweg bestimmt war. Aus diesem Zustand heraus gab es Augenblicke, da ich ihn, ich muß es zugeben, so charmant, rücksichtsvoll und loyal fand, daß ich ihn über all meine anderen Geschwister stellte. In anderen Momenten jedoch konnte er dermaßen bitter, sarkastisch und rundheraus brutal sein, daß ich seine Gesellschaft mied aus Angst, ich könnte ihm etwas antun. Unser letztes Zusammensein war negativer Art gewesen, kurze Zeit bevor Eric und ich jene Auseinandersetzung hatten, die zu meinem Exil führte.
. . . Und das waren meine Gedanken und Gefühle, während ich seinen Trumpf betrachtete und ihn mit dem Verstand, mit dem Willen zu erreichen versuchte, während ich die Leere entstehen ließ, die er ausfüllen sollte. Ringsum gingen die anderen eigene Erinnerungen durch und taten dasselbe.
Langsam veränderte sich die Karte wie in einem Traum; sie schien an Tiefe zu gewinnen. Es folgte das vertraute Verschwimmen und das Gefühl von Bewegung, das den Kontakt mit dem Gesuchten ankündigt. Der Trumpf fühlte sich unter meinen Fingerspitzen kälter an, dann strömten Dinge herbei und formierten sich, errangen eine plötzliche Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, nachhaltig, dramatisch, komplett.
Er schien sich in einer Zelle zu befinden. Hinter ihm ragte eine Steinmauer auf. Auf dem Boden lag Stroh. Er war angekettet, und seine Kette führte durch einen riesigen Ring, der in die Wand über ihm eingelassen war. Es war eine ziemlich lange Kette, die ihm ausreichend Bewegung gestattete. Im Augenblick nutzte er diese Tatsache aus; er lag ausgebreitet auf einem Haufen aus Stroh und Lumpen in einer Ecke. Kopfhaare und Bart waren ziemlich lang, sein Gesicht wirkte dünner, als ich es je zuvor gesehen hatte. Seine Kleidung war zerrissen und verdreckt. Er schien zu schlafen. Unwillkürlich mußte ich an meine eigene Gefangenschaft denken – an die Gerüche, die Kälte, die übelriechende Nahrung, die Feuchtigkeit, die Einsamkeit – an den Wahnsinn, der kam und ging. Wenigstens hatte Brand seine Augen noch. Plötzlich begannen seine Augenlider zu zucken, als mehrere von uns seinen Namen riefen. Er öffnete seine grünen Augen; sie hatten einen matten, leeren Ausdruck.