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Benedict hatte nun keinen Zweifel daran gelassen, daß er mir mißtraute. Dies allein war sicher ein ausreichender Grund dafür, daß er Informationen über Dinge für sich behielt, die er für zu problematisch hielt, als daß sie mich etwas angingen. Hölle, wenn die Lage umgekehrt gewesen wäre, hätte ich mir auch nicht vertraut! Doch nur ein Dummkopf hätte ihn jetzt darauf angesprochen. Denn es gab noch andere Möglichkeiten.

Immerhin möglich, daß er mir später unter vier Augen von Brands Besuchen erzählen wollte. Dabei mochte es durchaus um etwas gegangen sein, das er nicht vor der Gruppe und besonders nicht vor Brands Möchtegern-Mörder besprechen wollte.

Oder . . . Natürlich war auch die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß Benedict selbst hinter allem stand. Die Folgen wagte ich mir nicht vorzustellen. Da ich unter Napoleon, Lee und McArthur gedient hatte, wußte ich den Taktiker wie auch den Strategen zu schätzen. Benedict war beides, der beste, den ich je gekannt hatte. Der kürzliche Verlust seines rechten Arms hatte diese Fähigkeiten in keiner Weise gemindert, ebensowenig wie seine Gefährlichkeit im Zweikampf. Wäre ich seinerzeit nicht vom Glück begünstigt gewesen, hätte er mich wegen eines Mißverständnisses mühelos windelweich geschlagen. Nein, ich wünschte mir nicht, daß Benedict der Drahtzieher war, und ich gedachte auch nicht auf die Jagd nach den Dingen zu gehen, die er im Augenblick verheimlichen wollte. Ich hoffte nur, daß er sie sich lediglich für später aufhob.

Ich beschränkte mich also auf ein »Das ist alles« und beschloß, das Thema zu wechseln.

»Flora«, sagte ich. »Als ich dich nach meinem Unfall besuchte, sagtest du etwas, das ich auch heute noch nicht ganz verstehe. Da ich kurz darauf relativ viel Zeit zur Verfügung hatte und mir manche Dinge überlegen konnte, bin ich in meinen Erinnerungen auch auf diesen Satz gestoßen und habe mir Gedanken darüber gemacht. Ich verstehe ihn nicht. Würdest du mir bitte erläutern, was du gemeint hast, als du sagtest, die Schatten enthielten mehr Schrecknisse, als man geglaubt hätte?«

»Nun, ich erinnere mich nicht genau daran, so etwas gesagt zu haben«, erwiderte Flora. »Aber vermutlich habe ich es gesagt, wenn es einen solchen Eindruck auf dich gemacht hat. Du kennst den Effekt, den ich meinte: daß Amber auf die benachbarten Schatten wie eine Art Magnet wirkt und Dinge daraus herüberzieht; je mehr man sich Amber nähert, desto einfacher ist der Weg, selbst für Schattenwesen. Während es zwischen benachbarten Schatten immer ein gewisses Maß an Wechselwirkung gibt, scheint dieser Effekt bei Amber stärker und auch einseitiger zu sein. Wir achten seit jeher besonders auf seltsame Dinge, die sich aus den Schatten zu uns verirren. Nun, in den Jahren vor deiner Gesundung schienen diese Erscheinungen in der Nähe Ambers verstärkt aufzutreten. Unheimliche Wesen tauchten auf, fast immer gefährlich. Viele waren unverkennbar Geschöpfe aus nahegelegenen Bereichen. Nach einiger Zeit jedoch kamen die Besucher von immer weiter her. Schließlich tauchten Wesen auf, die uns völlig unbekannt waren. Man wußte keine Erklärung für diesen plötzlichen Transport von Gefahren, obwohl wir ziemlich gründlich nach den Ursachen forschten, die die Erscheinungen zu uns treiben mochten. Mit anderen Worten – es traten ziemlich unwahrscheinliche Schattendurchdringungen auf.«

»Dies begann schon, während Vater noch in der Stadt war?«

»O ja. Es begann mehrere Jahre vor seiner Gesundung – wie ich eben schon sagte.«

»Ich verstehe. Hat sich schon mal jemand mit der Frage beschäftigt, ob es zwischen diesen Ereignissen und Vaters Verschwinden eine Verbindung gibt?«

»Gewiß«, erwiderte Benedict. »Ich bin noch immer der Meinung, daß hier der Grund zu sehen ist. Er zog los, um den Phänomenen nachzugehen – oder um ein Gegenmittel zu finden.«

»Das ist lediglich eine Vermutung«, meinte Julian. »Du weißt ja, wie er war. Er hat niemals Gründe genannt.«

Benedict zuckte die Achseln.

»Es ist jedenfalls eine logische Schlußfolgerung«, sagte er. »Soweit ich weiß, hat er bei verschiedenen Gelegenheiten von seiner Sorge über die Monsterwanderungen – wenn wir sie so nennen wollen – gesprochen.«

Ich zog meine Karten aus ihrem Behältnis; ich hatte es mir in letzter Zeit angewöhnt, stets einen kompletten Satz Trümpfe bei mir zu führen. Ich zog Gérards Karte und betrachtete sie. Die anderen sahen mir stumm zu. Gleich darauf kam der Kontakt.

Gérard saß noch immer auf seinem Stuhl, die Klinge quer über die Knie gelegt. Er hatte seine Mahlzeit noch nicht beendet. Er schluckte, als er meine Gegenwart spürte, und fragte: »Ja, Corwin? Was willst du?«

»Wie geht es Brand?«

»Er schläft«, erwiderte er. »Sein Puls ist ein bißchen kräftiger geworden. Seine Atmung ist unverändert – regelmäßig. Es ist noch zu früh . . .«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich wollte mich nur erkundigen, ob du dich an eine bestimmte Sache erinnerst. Hattest du nach Dingen, die Vater gesagt oder getan hat, den Eindruck, daß sein Verschwinden irgendwie mit dem verstärkten Auftauchen von Schattenwesen in Amber zu tun hatte?«

»Das«, sagte Julian, »nennt man eine Fangfrage.«

Gérard wischte sich den Mund.

»Eine Verbindung mag bestanden haben«, sagte er. »Er war irgendwie beunruhigt und mit den Gedanken ganz woanders. Und er sprach von den Wesen. Aber er hat niemals offen heraus gesagt, sie seien seine Hauptsorge – oder ob ihn vielleicht etwas ganz anderes beschäftigte.«

»Zum Beispiel?« – Er schüttelte den Kopf.

»Irgend etwas. Ich – ja . . . ja, es gibt da etwas, das du wissen solltest; vielleicht nützt es etwas. Einige Zeit nach seinem Verschwinden wollte ich einen bestimmten Umstand feststellen; nämlich: ob ich tatsächlich die letzte Person war, die ihn vor seiner Abreise gesehen hat. Ich bin ziemlich sicher, daß ich es war. Ich hatte mich den ganzen Abend im Palast aufgehalten und machte Anstalten, an Bord meines Flaggschiffs zurückzukehren. Vater hatte sich etwa eine Stunde zuvor zurückgezogen, doch ich war noch im Wachzimmer geblieben und hatte mit Kapitän Thoben Dame gespielt. Da wir am folgenden Morgen auslaufen wollten, beschloß ich, ein Buch mitzunehmen. Ich ging also hier in die Bibliothek. Vater saß am Tisch.« Gérard machte eine Kopfbewegung. »Er blätterte in einigen alten Büchern und hatte sich noch nicht umgezogen. Er sagte: ›Du bist an der richtigen Stelle‹, und las weiter. Während ich die Regale absuchte, machte er eine Bemerkung darüber, daß er nicht schlafen könne. Ich fand ein Buch, wünschte ihm eine gute Nacht. Er sagte: ›Gute Fahrt‹, und ich ging.« Gérard senkte den Blick. »Ich bin überzeugt, daß er an jenem Abend das Juwel des Geschicks trug, daß ich es auf seiner Brust sah, so deutlich, wie ich dich jetzt vor mir habe. Ich bin ebenso überzeugt, daß er es früher am Abend nicht getragen hatte. Später war ich lange Zeit der Ansicht, er habe es mitgenommen, wohin immer er auch gegangen war. In seinen Räumen fand sich kein Hinweis darauf, daß er sich später noch umgezogen hatte. Ich sah den Stein erst wieder, als du und Bleys besiegt wurdet nach eurem Angriff auf Amber. Da trug Eric plötzlich das Juwel. Als ich ihn fragte, behauptete er, er habe das Schmuckstück in Vaters Gemächern gefunden. Da ich keine gegenteiligen Beweise hatte, mußte ich dies akzeptieren, aber zufrieden war ich damit nicht. Deine Frage – und die Tatsache, daß du den Stein jetzt trägst – hat die alten Erinnerungen wieder aufsteigen lassen. Ich dachte, du solltest darüber Bescheid wissen.«

»Danke«, sagte ich. Zugleich fiel mir eine andere Frage ein, die ich im Augenblick aber lieber nicht stellen wollte. Für die Ohren der anderen beendete ich das Gespräch mit der Frage : »Du meinst also, er braucht noch mehr Decken? Oder sonst etwas?«

Gérard prostete mir mit seinem Glas zu und trank.

»Sehr gut. Mach nur so weiter«, sagte ich und schob die Hand über seine Karte.