Ich schüttelte den Kopf. Ich nickte langsam ein, wollte bereits in Träume versinken. Ich mußte wach bleiben! War das ein weiterer Wagen? Vielleicht. Ich versuchte den Kissenbezug zu heben, er entglitt meinen Fingern. Als ich mich vorbeugte, um das Stück Leinen wieder an mich zu nehmen, mußte ich einen Augenblick lang den Kopf auf den Knien liegen lassen. Deirdre . . . Ich wollte meine liebe Schwester rufen. Wenn mir überhaupt jemand helfen würde, dann Deirdre. Ich wollte ihren Trumpf herausholen und sie ansprechen. Sofort, Wenn sie nur nicht meine Schwester gewesen wäre . . .! Ich mußte mich ausruhen. Ich bin Bube, kein Dummkopf. Zuweilen, wenn ich ausruhe, tun mir gewisse Dinge vielleicht sogar leid. Einige Dinge. Wenn es nur wärmer wäre . . . Aber eigentlich war es gar nicht schlimm, so dazusitzen, vornübergebeugt . . . War das ein Auto? Ich wollte den Kopf heben, stellte aber fest, daß ich es nicht vermochte. Doch es machte wohl keinen großen Unterschied; der Fahrer würde mich sehen.
Ich spürte das Licht auf den Augenlidern und hörte den Motor. Jetzt kam das Geräusch nicht mehr näher und entfernte sich auch nicht mehr, nur ein gleichmäßiges an- und abschwellendes Knurren. Dann hörte ich einen Ruf. Dann das Klick-Pause-Klack einer sich öffnenden und schließenden Wagentür. Ich stellte fest, daß ich die Augen öffnen konnte, daß ich es aber nicht wollte. Ich hatte Angst, ich würde vor mir nur die leere dunkle Straße sehen, die Geräusche würden wieder zu Pulsschlägen werden oder sich im Wind auflösen. Es war besser, die Dinge festzuhalten, die ich hatte, als mich auf ein Risiko einzulassen.
»He! Was ist los? Sind Sie verletzt?«
Schritte . . . Dies war die Wirklichkeit.
Ich öffnete die Augen. Ich zwang meinen Oberkörper hoch.
»Corey! Mein Gott! Du bist das!«
Ich zwang mich zu einem Grinsen, verhinderte im letzten Augenblick ein Umsinken.
»Ich bin´s wirklich, Bill. Wie ist es dir so ergangen?«
»Was ist passiert?«
»Ich bin verletzt«, sagte ich. »Vielleicht ziemlich schlimm. Brauche einen Arzt.«
»Kannst du gehen, wenn ich dir helfe? Oder soll ich dich tragen?«
»Versuchen wir´s mit Gehen«, sagte ich.
Er zerrte mich hoch, und ich stützte mich auf ihn. Wir begannen auf den Wagen zuzugehen. Ich erinnere mich aber nur noch an die ersten taumelnden Schritte.
Als meine Himmelskutsche sich wieder emporzuschwingen begann, versuchte ich den Arm zu heben, erkannte, daß er angebunden war, und beschränkte mich auf eine Betrachtung des daran befestigten Röhrchens. Dabei kam ich zu dem Schluß, daß ich die Sache offenbar überlebt hatte. Schon hatte ich Krankenhausgerüche wahrgenommen und einen Blick auf meine innere Uhr geworfen. Nachdem ich es nun bis hierher geschafft hatte, war ich es meinem inneren Schweinehund schuldig, das Ziel ganz zu erreichen. Außerdem war mir warm, und ich lag so bequem, wie es die kürzlichen Ereignisse nur erlaubten. Nachdem das geklärt war, schloß ich die Augen wieder, senkte den Kopf und schlief ein.
Als ich später zu mir kam, fühlte ich mich schon besser. Eine Krankenschwester sagte mir, daß man mich vor sieben Stunden eingeliefert habe und daß sich in Kürze ein Arzt mit mir unterhalten wolle. Sie verschaffte mir auch ein Glas Wasser und ließ mich wissen, daß es zu schneien aufgehört habe. Sie hätte zu gern gewußt, was mir widerfahren war.
Ich überlegte, daß es Zeit war, mir eine Geschichte zurechtzulegen – je einfacher, desto besser. Also schön. Nach einem längeren Auslandsaufenthalt war ich nach Hause gekommen. Ich hatte mich als Anhalter herfahren lassen, war ins Haus gegangen und dort von irgendeinem Einbrecher oder Penner angegriffen worden. Anschließend war ich zur Straße gekrochen, um Hilfe zu suchen. Das war alles.
Als ich dem Arzt diese Details auftischte, wußte ich zuerst nicht, ob er mir glaubte oder nicht. Er war ein untersetzter Mann, dessen Gesicht schon vor vielen Jahren erschlafft war. Er hieß Bailey, Morris Bailey, und begleitete meine Schilderung mit einem Nicken. Dann fragte er: »Haben Sie einen Blick auf den Kerl werfen können?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es war dunkel«, sagte ich.
»Hat er Sie auch beraubt?«
»Keine Ahnung.«
»Hatten Sie eine Brieftasche bei sich?«
Ich kam zu dem Schluß, daß ich diese Frage wohl bejahen mußte.
»Nun, als Sie hier eingeliefert wurden, hatten sie keine – er muß sie also mitgenommen haben.«
»Ja«, sagte ich.
»Erinnern Sie sich denn gar nicht an mich?«
»Ich weiß nicht recht. Müßte ich Sie kennen?«
»Als man Sie hereinbrachte, kamen Sie mir irgendwie bekannt vor. Das war alles, zuerst . . .«
»Und . . .?« fragte ich.
»Was für Kleidung hatten Sie an? Das Zeug hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Uniform.«
»Die neueste Mode, drüben, wo ich herkomme. Aber Sie haben eben gesagt, ich sei Ihnen bekannt?«
»Ja«, meinte er. »Wo liegt dieses ›Drüben‹? Woher kommen Sie? Wo sind Sie gewesen?«
»Ich reise viel«, sagte ich. »Sie wollten mir etwas sagen.«
»Ja«, sagte er. »Wir sind ein kleines Krankenhaus, und vor einiger Zeit hat ein flinker glattzüngiger Vertreter die Direktion dazu überredet, sich für die Krankengeschichten einen Computer anzuschaffen. Wäre diese Gegend besser erschlossen worden, damit wir uns hätten ausweiten können, wäre dieses Ding sicher von Nutzen gewesen. Doch nichts von alledem geschah, und nun ist die Sache nicht nur teuer, sondern führt außerdem zu einer gewissen Trägheit des Verwaltungspersonals. Alte Akten werden nicht mehr so gründlich gelöscht wie früher, selbst die aus der Notaufnahme. In dem ganzen System ist Platz für zuviel unnütziges Zeug. Als mir Mr. Roth Ihren Namen nannte und ich Sie routinemäßig untersuchte, wurde mir klar, warum Sie mir bekannt vorgekommen waren. Auch damals hatte ich in der Notaufnahme Dienst, vor etwa sieben Jahren, als Sie Ihren Autounfall hatten. Ich erinnere mich, daß ich Sie damals behandelt habe – und daß ich der Meinung war, Sie würden es nicht schaffen. Doch Sie haben mich eines Besseren belehrt – und auch heute sind Sie für mich eine Überraschung. Ich kann nicht einmal die Narben finden, die Sie eigentlich haben müßten. Sie haben sich verdammt gut herausgemacht.«
»Vielen Dank. Das ist sicher dem Chirurgen zu verdanken.«
»Würden Sie mir für die Unterlagen bitte Ihr Alter nennen?«
»Sechsunddreißig«, erwiderte ich. Das ist eine neutrale Zahl.
Er machte einen Vermerk in der Akte, die auf seinen Knien lag.
»Wissen Sie, als ich mich mit Ihnen zu beschäftigen begann und meine Erinnerungen zurückkamen – da hätte ich schwören können, daß Sie damals schon genauso ausgesehen haben.«
»Ich lebe eben gesund.«
»Kennen Sie Ihre Blutgruppe?«
»Eine ziemlich ausgefallene. Aber Sie können sie als AB positiv ansehen. Ich kann alles aufnehmen – doch Sie dürfen mein Blut niemandem geben.«
Er nickte.
»Ihr Mißgeschick macht natürlich die Einschaltung der Polizei erforderlich.«
»Das hatte ich mir schon gedacht.«
»Vielleicht wollen Sie noch ein bißchen darüber nachdenken.«
»Vielen Dank«, sagte ich. »Sie hatten also damals Dienst – und flickten mich zusammen? Das ist interessant. Woran erinnern Sie sich sonst noch?«
»Was meinen Sie?«
»Ich meine die Umstände, unter denen ich damals eingeliefert wurde. Meine Erinnerungen setzen leider kurz vor dem Unfall aus und beginnen erst wieder, als ich längst in die andere Klinik verlegt worden war – Greenwood. Erinnern Sie sich noch, wie ich hergebracht wurde?«
Er runzelte die Stirn – nachdem ich gerade zu dem Schluß gekommen war, daß er nur einen einzigen Gesichtsausdruck kannte.