»Offen heraus, direkt, kein Blatt vor den Mund! Damit entgeht dir aber ein Teil des Vergnügens. Aber auch dieses Neue hat seinen Wert. Damit kann man die anderen nervös machen . . . man kann sein Verhalten wieder ändern, wenn es am wenigsten erwartet wird . . . Ja, das könnte wertvoll sein. Zugleich erfrischend. Na gut! Reg dich nicht auf. Damit enden die Präliminarien. All die netten Worte der Einleitung sind gewechselt. Ich werde die grundsätzlichen Dinge bloßlegen, werde dem Monstrum Unvernunft die Zügel anlegen und aus dämmrigem Dunkel die Perle vornehmster Vernunft hervorzaubern. Doch zunächst noch eins, wenn es dir recht ist. Hast du etwas Rauchbares bei dir? Es ist jetzt etliche Jahre her, und ich hätte gern mal wieder das eine oder andere üble Kraut probiert – zur Feier meiner Rückkehr.«
Ich wollte schon nein sagen. Doch ich war sicher, daß im Tisch Zigaretten lagen, von mir selbst dort zurückgelassen. Eigentlich hatte ich etwas gegen die Anstrengung, doch ich sagte: »Moment.«
Als ich mich erhob und die Bibliothek durchquerte, versuchte ich, meine Bewegungen ganz entspannt aussehen zu lassen. Während ich die Tischschublade durchwühlte, stemmte ich die Hand auf die Platte und hoffte, daß es so aussah, als stützte ich mich lässig ab und nicht so schwer, wie es tatsächlich der Fall war. Ich verdeckte meine Bewegungen mit Körper und Mantel, soweit es ging.
Schließlich fand ich die Packung und kehrte auf dem gleichen Wege zurück; unterwegs verharrte ich kurz am Kamin, um zwei Zigaretten anzuzünden. Brand ließ sich Zeit, mir seine Zigarette abzunehmen.
»Deine Hand ist ziemlich zittrig«, sagte er. »Was ist denn los?«
»Zuviel gefeiert gestern«, sagte ich und kehrte zu meinem Stuhl zurück.
»Daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht! Gewiß, dazu ist es gekommen, nicht wahr? Natürlich! Alle zusammen in einem Raum . . . Der unerwartete Erfolg der Suche nach mir, meine Rückkehr . . . Der verzweifelte Versuch seitens einer ausgesprochen nervösen und schuldbeladenen Person . . . Ja, da lag der halbe Erfolg. Ich verwundet und stumm, doch wie lange? Dann . . .«
»Du hast gesagt, du weißt, wer es getan hat. War das ein Scherz?«
«Nein.«
»Wer also?«
»Alles zu seiner Zeit, mein lieber Bruder. Alles zu seiner Zeit. Abfolge und Ordnung, Zeit und Akzent – das ist hier von großer Bedeutung. Gestatte mir, das Drama jenes Augenblicks in sicherem Rückblick zu genießen. Ich sehe mich verwundet und euch rings um mich. Ah! Was würde ich geben, um dieses Bild zu sehen! Könntest du mir vielleicht den Ausdruck auf den Gesichtern beschreiben?«
»Ich fürchte, die Gesichter waren in diesem Augenblick meine geringste Sorge.«
Er seufzte und blies Rauch aus.
»Ah, das tut gut«, sagte er. »Egal – ich kann mir die Gesichter vorstellen. Wie du weißt, besitze ich eine lebhafte Fantasie. Schock, Unbehagen, Verwirrung – hinüberwechselnd zu Mißtrauen und Angst. Dann, so sagt man mir, seid ihr alle gegangen, und der liebevolle Gérard hat mich umhätschelt.« Er schwieg, starrte in den Rauch, und eine Sekunde lang hatte seine Stimme nichts Spöttisches. »Weißt du, er ist der einzige Anständige unter uns.«
»Er steht ziemlich weit oben auf meiner Liste«, sagte ich.
»Er hat sich aufopfernd um mich gekümmert. Er hat sich immer um die anderen gekümmert.« Plötzlich kicherte er. »Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum er sich die Mühe macht. Doch ich hing gerade meinen Gedanken nach, ausgelöst durch dein leidendes Ich – ihr müßt euch dann an einen anderen Ort zurückgezogen haben, um die Ereignisse zu besprechen. Noch eine Party, an der ich gern teilgenommen hätte. All die Emotionen und Verdächtigungen und Lügen, die da herumschwirrten – und niemand, der als erster Gute Nacht zu sagen wagte! Der Tonfall muß mit der Zeit ziemlich schrill geworden sein. Jedermann bemüht höflich, doch mit geballter Faust, um den anderen ein blaues Auge zu verpassen. Versuche, die einzig schuldige Person einzuschüchtern. Vielleicht ein paar Steinwürfe auf die Sündenböcke. Aber letztlich ohne Ergebnis. Habe ich recht?«
Ich nickte, wußte ich doch zu beurteilen, wie sein Verstand funktionierte, und war inzwischen auch durchaus gewillt, ihn auf seine Weise erzählen zu lassen.
»Du weißt selbst, daß du recht hast«, sagte ich.
Daraufhin warf er mir einen prüfenden Blick zu und fuhr fort: »Doch zuletzt sind alle gegangen, um anschließend besorgt wachzuliegen oder sich mit einem Komplicen zum Pläneschmieden zu treffen. Verborgene Stürme in der Nacht. Schmeichelhaft zu wissen, daß sich jedermann Gedanken um mein Wohlergehen machte. Natürlich waren einige dagegen, andere dafür. Und in der Mitte all dieser Ereignisse tummelte ich mich – nein, ich gedieh –, beseelt von dem Wunsch, meine Anhänger nicht zu enttäuschen. Gérard hat viel Zeit darauf verwendet, mich über die jüngste Geschichte aufzuklären. Als ich genug davon hatte, ließ ich dich holen.«
»Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ich bin jetzt hier. Was wolltest du mir sagen?«
»Geduld, Bruder! Geduld! Denk an all die Jahre, die du in den Schatten verbracht hast, ohne dich an das hier zu erinnern.« Er machte eine umfassende Bewegung mit der Zigarette. »Denk an die lange Zeit, die du, ohne es zu wissen, gewartet hast, bis es mir gelang, dich zu finden, bis ich versuchte, dein schlimmes Los zu beenden. Im Vergleich dazu sind ein paar Minuten in diesem Augenblick doch nicht gar so kostbar.«
»Man hat mir gesagt, daß du mich gesucht hattest«, sagte ich. »Darüber habe ich mich gewundert, denn nach unserem letzten Zusammensein sind wir nicht gerade in bestem Einvernehmen auseinandergegangen.«
Er nickte.
»Das kann ich nicht abstreiten«, sagte er. »Doch über solche Dinge komme ich immer wieder hinweg, früher oder später.«
Ich schnaubte ungläubig durch die Nase.
»Ich habe mir darüber klar zu werden versucht, wieviel ich dir sagen soll, wieviel du mir wohl glauben würdest«, fuhr er fort. »Hätte ich geradeheraus behauptet, meine Motive seien bis auf einige Kleinigkeiten fast ausschließlich altruistischer Natur, hättest du mir das bestimmt nicht geglaubt.
Wieder schnaubte ich durch die Nase.
»Aber es stimmt«, fuhr er fort, »und ich sage dies, um dein Mißtrauen zu besänftigen und weil ich keine andere Wahl habe. Anfänge sind immer schwierig. Wo immer ich beginne – irgend etwas hat bestimmt schon vorher stattgefunden. Du warst ja auch so lange fort. Wenn man schon irgendeinen Aspekt besonders herausstellen muß, nehmen wir am besten den Thron. Na bitte! Jetzt habe ich es gesagt. Weißt du, wir hatten uns eine Strategie zurechtgelegt, den Thron zu übernehmen. Dies geschah kurz nach deinem Verschwinden und wurde in gewisser Weise vielleicht sogar dadurch ausgelöst. Vater hatte Eric im Verdacht, dich getötet zu haben. Allerdings gab es keine Beweise. Jahre vergingen, du warst auf keine bekannte Weise erreichbar, und die Wahrscheinlichkeit wuchs, daß du tatsächlich tot warst. Eric fiel bei Vater immer mehr in Ungnade. Eines Tages, im Gefolge einer Diskussion über ein völlig neutrales Thema – die meisten von uns saßen mit am Tisch –, sagte Vater plötzlich, kein Brudermörder würde jemals den Thron erringen – und dabei sah er Eric an. Du weißt ja, wie seine Augen sich verändern konnten. Eric wurde puterrot und bekam lange Zeit keinen Bissen hinunter. Aber dann trieb Vater die Sache weiter, als wir es vorausgesehen oder uns gewünscht hatten. In aller Fairnis dir gegenüber muß ich sagen, daß ich nicht weiß, ob es ihm nur darum ging, seinen Gefühlen Luft zu machen, oder ob er seine Worte wirklich ernst meinte. Jedenfalls sagte er uns, er sei bereits mehr als halb entschlossen gewesen, dich zu seinem Nachfolger zu machen, so daß er das, was dir widerfahren war, als persönliche Maßnahme gegen sich auffasse. Bestimmt hätte er nicht darüber gesprochen, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, daß du tot warst. In den folgenden Monaten errichteten wir dir einen Zenotaph, um dieser Schlußfolgerung eine greifbare Form zu geben, und sorgten dafür, daß Vaters Gefühle gegenüber Eric nicht in Vergessenheit gerieten. Immerhin wußten wir, daß Eric nach dir derjenige war, den wir ausschalten mußten, wenn wir den Thron erringen wollten.«