»Sie werden eine Nummer ziehen und warten müssen, bis sie an der Reihe sind, wie wir anderen«, hatte Random daraufhin gesagt.
»Das stimmt nicht ganz«, erwiderte ich. »Fionas Verbündete und die Wesen, die über die schwarze Straße kommen, sind identisch.«
»Und der Kreis in Lorraine?« hatte sich Ganelon erkundigt.
»Ein und dasselbe. Auf diese Weise haben sich die Erscheinungen eben in jenem Schatten manifestiert. Sie haben einen weiten Weg hinter sich.«
»Allgegenwärtige Teufel!« knurrte Random.
Ich hatte genickt und die Lage zu erklären versucht.
. . . Und so kam ich nun nach Tir-na Nog´th. Als der Mond aufstieg und das Phantom Ambers schwach am Himmel erschien, durchstochen von Sternen, mit schwachen Höfen um die Türme und winzigen Bewegungspunkten auf den Mauern, wartete ich, wartete mit Ganelon und Random, wartete auf der höchsten Weide Kolvirs, an der Stelle, wo die drei Stufen ins Gestein gehauen sind . . .
Als das Mondlicht sie berührte, begannen die Umrisse der gesamten Treppe zu erscheinen, einer Treppe, die den mächtigen Abgrund bis zu der Stelle über dem Meer bewältigte, den die Visionsstadt einnahm. Als das Mondlicht darauf fiel, gewann die Treppe soviel Substanz, wie sie jemals besitzen würde, und ich stellte den Fuß auf den Stein . . . Random hatte einen vollen Satz Karten bei sich, und ich hatte meine Trümpfe in der Jacke. Grayswandir, hier an diesem Ort bei Mondlicht geschmiedet, besaß Macht in der Stadt des Himmels; deshalb nahm ich die Klinge mit. Ich hatte mich den ganzen Tag ausgeruht und hielt nun einen Stab in der Hand, um mich darauf zu stützen. Illusion der Ferne und der Zeit . . . Die Stufen durch den Corwin-ignorierenden Himmel nahmen irgendwie an Größe zu; sobald die Bewegung begonnen hat, gibt es auf dieser Treppe keine einfache arithmetische Progression. Ich war hier, ich war dort, ich hatte ein Viertel des Weges zurückgelegt, noch ehe meine Schulter den Griff von Ganelons Hand vergessen hatte . . . Wenn ich irgendeinen Teil der Treppe zu intensiv ansah, verlor er seine schimmernde Undurchsichtigkeit, und ich sah tief unter mir den Ozean wie durch eine milchige Linse . . . Obwohl es einem hinterher nicht lange vorkommt, verlor ich jedes Zeitgefühl . . . Rechts von mir, in einer Tiefe unter den Wellen, die bald der Höhe entsprechen würde, die ich über das Meer emporstieg, erschienen die Umrisse Rebmas funkelnd und sich windend unter dem Wasser. Ich dachte an Moire und fragte mich, wie es ihr ging. Was würde aus unserem unterseeischen Double werden, wenn Amber fiel? Würde das Abbild unzerstört im Spiegel verharren, oder würden Gebäude und Menschen gleichermaßen duchgeschüttelt, wie Würfel in den unterseeischen Kasinosälen, über die unsere Flotten dahinziehen? Keine Antwort in den menschenfordernden Corwin-verfluchenden Gewässern, wenn ich auch einen Stich in der Seite spürte.
Oben an der Treppe trat ich ein, betrat die Geisterstadt, ähnlich wie man Amber erreicht, nachdem man die große Außentreppe an Kolvirs seewärtigem Hang erstiegen hat.
Ich stützte mich auf das Geländer, blickte auf die Welt hinaus.
Die schwarze Straße führte nach Süden. Nachts konnte ich sie wegen der Dunkelheit nicht sehen, aber das machte nichts. Ich wußte inzwischen, wohin sie führte, beziehungsweise, wohin sie nach Brands Aussage führte. Da er meinem Eindruck nach ein ganzes Menschenalter an Gründen zum Lügen aufgebraucht hatte, glaubte ich durchaus, daß er wußte, wohin sie führte.
Ganz hindurch.
Ausgehend von dem Glanz Ambers, von der Macht und der schimmernden Pracht der benachbarten Schatten durch die immer dunkler werdenden Scheiben von Abbildern, die in jede Richtung führen, immer weiter fort, durch verzerrte Landschaften, und immer weiter, hindurch durch Orte, die nur sichtbar werden, wenn man betrunken ist, im Delirium liegt oder träumt – aber dennoch weiter, hinaus über den Punkt, da ich Schluß mache . . . Da ich Schluß mache . . .
Wie soll man etwas einfach ausdrücken, das im Grunde nicht einfach ist . . .? Solipsismus – das ist wohl der Begriff, mit dem wir beginnen müssen – die Vorstellung, daß nichts existiert außer dem Ich oder daß wir zumindest nichts anderes als unsere eigene Existenz, unser eigenes Erleben wirklich wahrnehmen können. Irgendwo in den Schatten, an irgendeinem Ort, ist alles zu finden, was ich mir nur vorstellen kann. Dazu ist jeder von uns in der Lage. Dies, so sage ich in gutem Glauben, spielt sich innerhalb der Grenzen des Egos ab. Nun mag man behaupten, wie es von den meisten von uns getan wurde, daß wir die von uns besuchten Schatten aus dem Stoff unserer eigenen Psyche schaffen, daß nur wir wirklich existieren, daß die Schatten, die wir durchqueren, lediglich Projektionen unserer Sehnsüchte sind . . . Welche Argumente sich auch für diesen Standpunkt vortragen lassen – und es gibt mehrere –, hier wird ein wesentlicher Aspekt der Einstellung unserer Familie gegenüber Menschen, Orten und Dingen außerhalb Ambers erklärt. Demnach sind wir nämlich die Spielzeughersteller, und alles andere ist unser Spielzeug – gewiß, zuweilen gefährlich aktiviert, doch auch dies gehört zum Spiel. Der Veranlagung nach sind wir Impresarios und behandeln die anderen Familienangehörigen entsprechend. Während der Solipsismus gewisse Reibungsflächen mit der Ursachenforschung hat, kann man diese Problematik leicht vermeiden, indem man Fragen überhaupt nicht erst aufkommen läßt. Die meisten tun das, die meisten von uns handeln, wie ich schon oft festgestellt habe, in der Abwicklung ihrer Angelegenheiten fast völlig pragmatisch. Fast . . .
Und doch – und doch enthält das Bild ein störendes Element. Es gibt einen Ort, da die Schatten verrückt spielen . . . Wenn man sich bewußt durch eine Schattenschicht nach der anderen drängt und dabei mit jedem Schritt – wiederum bewußt – ein Stück des eigenen Verstehens aufgibt, erreicht man schließlich einen verrückten Punkt, über den man nicht hinauskommt. Warum so etwas tun? Ich würde sagen, hier wirkt die Hoffnung auf eine neue Einsicht oder auf ein neues Spiel . . . Doch wenn man diesen Ort erreicht, wie wir es alle getan haben, wird einem klar, daß man die Grenzen der Schatten oder die eigenen Grenzen erreicht hat – gleichbedeutende Begriffe, so haben wir immer angenommen. Jetzt aber . . .
Jetzt aber weiß ich, daß das nicht so ist, ich weiß es, während ich hier vor dem Gericht des Chaos stehe und erzähle, wie es war, jetzt weiß ich, daß das nicht so ist. Auch damals erkannte ich es schon, in jener Nacht in Tir-na Nog´th; ich hatte es sogar schon vorher gewußt, als ich im Schwarzen Kreis von Lorraine gegen den Ziegenmenschen kämpfte; ich hatte es im Leuchtturm von Cabra geahnt, nach meiner Flucht aus den Verliesen Ambers, als ich das zerstörte Garnath-Tal betrachtete . . . Ich wußte, daß dies nicht alles war. Ich wußte es, weil ich erkannte, daß die Schwarze Straße über diesen Punkt hinausführte. Sie führte durch den Wahnsinn in das Chaos und war dann immer noch nicht zu Ende. Die Geschöpfe, die die Straße benutzten, kamen von irgendwoher, doch es waren nicht meine Geschöpfe. Ich hatte irgendwie dazu beigetragen, daß ihnen der Weg geebnet wurde, doch sie entsprangen nicht meiner Version der Wirklichkeit. Sie waren eigenständig oder das Produkt eines anderen – eine Frage, die in diesem Augenblick von geringer Bedeutung war –, sie rissen Löcher in das kleine Netz der Metaphysis, das wir über die Jahre hin geknüpft hatten. Sie waren in unser Reservat eingedrungen, dem sie nicht entstammten; sie bedrohten unser Refugium, sie bedrohten uns. Fiona und Brand hatten über alle Grenzen hinausgegriffen und etwas gefunden, an einem Ort, da es nach Auffassung der übrigen nichts mehr hätte geben dürfen. Die entfesselte Gefahr war in einer Weise fast den Beweis wert, den sie brachte: wir waren nicht allein, und ebensowenig waren die Schatten wirklich unsere Spielzeuge. Wie immer unsere Beziehung zu den Schatten aussehen mochte, ich konnte sie nie wieder im alten Licht sehen . . .