Und das alles, weil die Schwarze Straße nach Süden führte und über mein Ende der Welt hinauslief.
Stille und Silber . . . Mich von dem Geländer entfernen, mich dabei auf den Stock stützen, durch den nebeldurchwirkten, dunstverflochtenen, mondlichtbestrichenen Stoff des Sehens innerhalb der beunruhigenden Stadt gehen . . . Gespenster . . . Schatten von Schatten . . . Abbilder der Wahrscheinlichkeit . . . Bilder des Vielleicht-Später und des Hätte-Sein-Könnens . . . Bilder der versunkenen Wah rscheinlichkeit . . . der wieder aufflackernden Wahrscheinlichkeit . . .
Jetzt über die Promenade . . . Gestalten, Gesichter, viele vertraut . . . Was führen sie im Schilde? Schwer zu sagen . . . Einige Lippen bewegen sich, einige Gesichter sind in Bewegung. Hier gibt es für mich keine Worte. Unbemerkt gehe ich zwischen ihnen hindurch.
Dort . . . Eine Gestalt . . . Allein, doch wartend . . . Finger, die Minuten umklammernd und wegwerfend . . . Das Gesicht abgewandt, das ich sehen möchte . . . Ein Zeichen, daß ich es sehen werde oder sehen sollte . . . Sie sitzt auf einer Steinbank unter einem verkrüppelten Baum . . . Sie blickt zum Palast hinüber . . . Ihre Umrisse sind mir bekannt . . . Im Näherkommen sehe ich, daß es sich um Lorraine handelt . . .Sie starrt auf einen Punkt weit hinter mir, hört mich nicht sagen, daß ich ihren Tod gerächt habe.
Doch ich habe die Macht, mir hier Gehör zu verschaffen . . . sie ruht in der Scheide an meiner Seite.
Ich ziehe Grayswandir, hebe die Klinge über den Kopf, wo das Mondlicht sein Muster in Bewegung versetzt. Ich lege es auf den Boden zwischen uns.
»Corwin!«
Ihr Kopf ruckt zurück, ihr Haar rostet im Mondlicht, ihre Augen stellen sich auf mich ein.
»Woher kommst du? Du bist früh dran.«
»Du wartest auf mich?«
»Natürlich. Du hast mich doch darum gebeten . . .«
»Wie kommst du an diesen Ort?«
»Diese Bank . . .?«
»Nein. Diese Stadt.«
»Amber? Ich verstehe nicht, was du meinst. Du hast mich doch selbst hierhergebracht. Ich . . .«
»Bist du glücklich hier?«
»Das weißt du doch – solange ich nur bei dir bin!«
Ich hatte das Gleichmaß ihrer Zähne, die Andeutung von Sommersprossen unter dem Schleier des weichen Lichts nicht vergessen . . .
»Was ist passiert? Die Antwort ist für mich sehr wichtig. Tu mal einen Augenblick lang so, als ob ich es nicht wüßte, sag mir alles, was nach der Schlacht des Schwarzen Kreises in Lorraine mit uns geschehen ist.«
Sie runzelte die Stirn. Sie stand auf, wandte sich ab.
»Wir hatten Streit«, sagte sie. »Du bist mir gefolgt und hast Melkin vertrieben. Dann unterhielten wir uns. Ich sah ein, daß ich im Unrecht war, und begleitete dich nach Avalon. Dort überredete dich dein Bruder Benedict, mit Eric zu sprechen. Du wurdest zwar nicht in deinen alten Stand eingesetzt, doch wegen etwas, das er dir sagte, erkärtest du dich mit einem Waffenstillstand einverstanden. Er schwor, dir kein Leid anzutun, und du schworst, Amber zu verteidigen, wobei Benedict als Zeuge fungierte. Wir blieben in Avalon, während du gewisse Chemikalien besorgtest, und suchten später einen anderen Ort auf, wo du seltsame Waffen kauftest. Wir gewannen die Schlacht, doch Eric ist schwer verwundet.« Sie drehte sich um. »Gedenkst du den Waffenstillstand zu beenden? Geht es darum, Corwin?«
Ich schüttelte den Kopf, und obwohl ich es besser hätte wissen müssen, streckte ich die Hände aus, um sie zu umarmen. Ich wollte sie an mich drücken, trotz der Tatsache, daß einer von uns nicht existierte, nicht existieren konnte, sobald die winzige Entfernung zwischen uns überbrückt war. Doch ich wollte ihr sagen, was geschehen war oder geschehen würde . . .
Der Schock war nicht schlimm, doch er ließ mich stolpern. Ich lag über Grayswandir . . . Mein Stab war mehrere Schritte entfernt ins Gras gefallen. Ich stemmte mich auf die Knie empor und sah, daß ihr Gesicht, ihre Augen, ihr Haar jede Farbe verloren hatten. Ihr Mund formte gespenstische Worte, während sich ihr Kopf suchend hin und her wandte. Ich steckte Grayswandir in die Scheide, brachte meinen Stab wieder an mich und stand auf. Ihr Blick stieß durch mich hindurch und fand ein Ziel. Ihr Gesicht wurde glatt, sie lächelte, setzte sich in Bewegung. Ich trat zur Seite und wandte mich um, sah sie auf den näherkommenden Mann zulaufen, sah sie in seiner Umarmung, erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, als er es dem ihren zuneigte, glückliches Gespenst; Silber stieg am Kragen seiner Kleidung empor, er küßte sie, dieser Mann, den ich niemals kennen würde, Silber auf Stille, und wiederum Silber . . .
Weggehen . . . Nicht zurückschauen . . . Die Promenade überqueren . . .
Randoms Stimme: »Corwin, ist alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Ist etwas Interessantes passiert?«
»Später, Random.«
»Entschuldige.«
Und plötzlich die schimmernde Treppe vor dem Palast . . . Hinauf, dann nach rechts . . . Jetzt langsam und geruhsam, in den Garten . . . Geisterblumen gedeihen ringsum auf ihren Stengeln, Geisterbüsche schleudern ihre Blüten empor wie erstarrte Feuerwerksraketen. Alles ohne Farbe . . . Nur die wichtigen Dinge skizziert, das Ausmaß der Silbrigkeit der einzige Anspruch ans Auge. Nur das Wichtige ist vorhanden. Ist Tir-na Nogh´th eine spezielle Schattensphäre in der realen Welt, beeinflußt von den Anstößen des Id – ein Projektionstest in voller Größe am Himmel, vielleicht sogar ein therapeutisches Mittel? Wenn dies ein Stück der Seele ist, würde ich sagen, dann ist die Nacht sehr düster – trotz des Silbers. Und sehr still . . .
Weitergehen . . . Vorbei an Brunnen, Bänken, Hainen, raffiniert gestalteten Nischen in Heckenlabyrinthen . . . Die Wege entlang, erst da, dann dort eine Treppe hinauf, über eine kleine Brücke . . . Vorbei an Teichen, zwischen Bäumen hindurch, ab und zu an einer Statue vorbei, einem Felsbrocken oder einer Sonnenuhr (hier vielleicht Monduhr?), mich nach rechts wenden, immer nur weiter gehen, nach einiger Zeit um die Nordecke des Palasts, dann nach links, vorbei an einem Hof voller Balkone, auf denen vereinzelt weitere Gespenster stehen . . .
Nach hinten herum, um auch den rückwärtigen Garten in dieser Form zu sehen; im echten Amber, im normalen Mondlicht, bietet er einen herrlichen Anblick.
Ein paar weitere Gestalten, die herumstehen, sich unterhalten . . . Außer meiner Eigenbewegung scheint sich nichts zu rühren.
. . . Und ich fühle mich nach rechts gezogen. Da man niemals ein kostenloses Orakel ablehnen sollte, gebe ich dem Drang nach.
. . . Nähere mich einer gewaltigen Hecke, darin eine kleine offene Fläche, wenn sie nicht überwachsen ist . . . Vor langer Zeit . . .
Darin zwei Gestalten, die sich umarmen. Sie weichen auseinander, als ich mich abzuwenden beginne. Geht mich nichts an, aber . . . Deirdre . . . Eine der beiden ist Deirdre. Noch ehe er sich umwendet, weiß ich, wer der Mann sein muß. Welche Macht auch immer hier im Silber und in der Stille herrscht, sie spielt mir einen grausamen Streich . . . Zurück, zurück, fort von der Hecke. Umdrehen, fallen, wieder aufstehen, laufen, fort, fort, schnell . . .
Randoms Stimme: »Corwin? Alles in Ordnung?«
»Später, verdammt! Später!«
»Wir haben nicht mehr lange bis Sonnenaufgang, Corwin. Ich hielt es für besser, dich zu erinnern . . .«
»Und jetzt hast du mich erinnert!«
Fort jetzt, schnell . . . Auch die Zeit ist in Tir-na Nog´th nur ein Traum. Ein geringer Trost – aber besser als keiner. Schnell jetzt, fort, gehen, fort . . .
. . . Auf den Palast zu, schimmernde Architektur des Geistes oder der Seele, deutlicher vor mir, als es der wirkliche Palast jemals gewesen ist. Vollkommenheit zu bescheinigen, ist ein wertloses Urteil, doch ich muß sehen, was sich darin befindet . . . Bald muß das Ende kommen, denn ich werde vorangetrieben. Diesmal habe ich mir nicht die Zeit genommen, meinen Stab aus dem funkelnden Gras aufzuheben.