Plötzlich bin ich schwer, und die Vision des Ozeans verblaßt nicht mehr. Ich beginne durch den Boden zu sinken. Farbe kehrt in die Welt zurück, schwankende rosarote Streifen. Der Corwin-verachtende Boden teilt sich, und der Corwin-tötende Abgrund tut sich auf . . .
Ich falle . . .
»Hier entlang, Corwin! Jetzt!«
Random steht auf einer Bergspitze und öffnet sich mir. Ich strecke die Hand aus . . .
11
. . . Und zwischen Regen und Traufe gibt es nur selten ein trockenes Plätzchen . . .
Wir lösten uns voneinander und standen auf. Gleich darauf setzte ich mich wieder – auf die unterste Stufe. Ich löste die Metallhand von meiner Schulter – kein Blut zu sehen, doch eine Vorahnung blauer Flecken – und warf sie zu Boden. Das Licht des frühen Morgens vermochte nicht von dem eleganten und drohenden Aussehen des Arms abzulenken.
Ganelon und Random standen neben mir.
»Alles in Ordnung, Corwin?«
»Ja. Laßt mich nur wieder zu Atem kommen.«
»Ich habe etwas zu essen mitgebracht«, sagte Random. »Wir können gleich hier frühstücken.«
»Guter Gedanke.«
Als Random die Vorräte auszupacken begann, berührte Ganelon meinen Arm mit der Stiefelspitze.
»Was, zum Teufel, ist das?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Das Ding habe ich Benedicts Geist abgeschlagen«, sagte ich. »Aus Gründen, die ich nicht verstehe, vermochte er mich zu berühren.«
Er bückte sich, nahm das Gebilde zur Hand und betrachtete es.
»Erheblich leichter, als ich gedacht hatte«, bemerkte er und fuhr damit durch die Luft. »Mit einer solchen Hand kann man ganz schön zulangen.«
»Ich weiß.«
Er bewegte die Finger.
»Vielleicht kann der echte Benedict etwas damit anfangen.«
»Vielleicht«, sagte ich. »Allerdings habe ich gemischte Gefühle bei dem Gedanken, ihm das Ding anzubieten – aber vielleicht hast du recht . . .«
»Wie geht es der Wunde?«
Ich drückte vorsichtig darauf.
»Nicht gerade schlecht, wenn man die Umstände bedenkt. Ich werde nach dem Frühstück reiten können, allerdings nur langsam.«
»Gut. Sag mal, Corwin, da Random gerade beschäftigt ist, hätte ich eine Frage, die vielleicht nicht angebracht ist – aber sie hat mir die ganze Zeit zu schaffen gemacht.«
»Na, schieß los.«
»Nun, ich will es mal so ausdrücken: ich stehe natürlich ganz auf deiner Seite, sonst wäre ich jetzt nicht hier. Ich werde für dich kämpfen, damit du den Thron erringst, was auch kommen mag. Doch jedesmal, wenn über die Nachfolge geredet wird, regt sich jemand auf und bricht die Diskussion ab oder wechselt das Thema. Zum Beispiel Random, während du da oben warst. Vermutlich ist es nicht absolut erforderlich, daß ich die rechtliche Grundlage deines Thronanspruchs oder der Ansprüche der anderen kenne, doch ich würde zu gern wissen, woher all der Unfriede kommt.«
Ich seufzte und saß einen Augenblick lang nur da.
»Na schön«, sagte ich nach einiger Zeit und begann zu lachen. »Na schön. Wenn wir uns schon in der Familie nicht über diese Dinge einigen können, wieviel verwirrender muß das für einen Außenstehenden sein; das sehe ich ein. Benedict ist der Älteste. Seine Mutter war Cymnea. Sie gebar Vater zwei weitere Söhne – Osric und Finndo. Dann – wie drückt man so etwas aus? –brachte Faiella Eric zur Welt. Bald darauf sah Vater einen Mangel in seiner Ehe mit Cymnea und ließ sie auflösen – ab initio, wie das in meinem alten Schatten heißen würde: von Anfang an. Ein hübscher Trick. Aber schließlich war er der König.«
»Hat das die Brüder nicht alle zu unehelichen Söhnen gemacht?«
»Nun, ihr Status war jedenfalls plötzlich nicht mehr so klar. Wie man mir erzählt hat, waren Osric und Finndo mehr als ein bißchen verärgert, doch sie starben kurze Zeit danach. Benedict war entweder weniger verärgert oder in der ganzen Sache entgegenkommender. Er hat keinen Aufstand gemacht. Und dann heiratete Vater Faiella.«
»Und machte Eric damit zum ehelichen Kind.«
»Das wäre wohl richtig, wenn er Eric als seinen Sohn anerkannt hätte. Er behandelte ihn zwar so, doch hat er in dieser Beziehung niemals formelle Schritte unternommen. Das hing irgendwie mit der Bereinigung der Angelegenheit mit Cymneas Familie zusammen, die damals ziemlich viel Einfluß hatte.«
»Wenn er ihn aber wie den eigenen Sohn behandelt hat . . .«
»Ah! Aber Llewella hat er später formell anerkannt! Sie wurde ebenfalls unehelich geboren, doch er beschloß, sie anzuerkennen, das arme Mädchen. Sämtliche Anhänger Erics haßten sie wegen der Auswirkungen dieses Schrittes auf seinen Status. Jedenfalls wurde Faiella später meine Mutter. Ich kam als Kind verheirateter Eltern zur Welt, womit ich der erste war, der einen klaren Anspruch auf den Thron hatte. Wenn du dieses Thema bei einem meiner Geschwister anschneidest, bekommst du wahrscheinlich ganz andere Auslegungen zu hören, doch das sind die Tatsachen, auf die sich alles andere gründet. Allerdings kommt mir die Sache nicht mehr so wichtig vor wie früher, nachdem Eric nun tot ist und Benedict kein Interesse zeigt. Jedenfalls ist das meine Position . . .«
»Ich verstehe – ich glaube jedenfalls zu verstehen«, sagte er. »Aber noch etwas . . .«
»Ja?«
»Wer ist der nächste? Ich meine, falls dir etwas zustoßen sollte . . .?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann wird es noch komplizierter. Caine wäre der nächste gewesen. Aber da er tot ist, geht die Thronfolge auf Clarissas Abkömmlinge über, die Rotschöpfe. Danach wäre Bleys an die Reihe gekommen, gefolgt von Brand.«
»Clarissa? Was ist denn aus deiner Mutter geworden?«
»Sie starb im Wochenbett. Deirdre war das Kind. Vater hat erst viele Jahre nach Mutters Tod wieder geheiratet. Dazu wählte er ein rothaariges Mädchen aus einem weit im Süden liegenden Schatten. Ich habe sie nie gemocht. Nach einer gewissen Zeit kam er zu demselben Schluß und begann wieder Unsinn zu machen. Nach Llewellas Geburt in Rebma söhnten sie sich aus, und Brand war das Ergebnis. Als sie endlich geschieden wurden, erkannte er Llewella an, um Clarissa zu ärgern. Wenigstens glaube ich, daß es so war.«
»Bei der Thronanwartschaft rechnest du die Mädchen also nicht mit?«
»Nein – sie sind entweder nicht interessiert oder nicht geeignet. Kämen sie in Frage, würde Fiona vor Bleys kommen und Llewella ihm folgen. Nach Clarissas Gruppe ginge die Thronfolge auf Julian, Gérard und Random über, in dieser Reihenfolge. Entschuldige – du mußt Flora vor Julian stellen. Doch lassen wir es damit gut sein.«
»Gern«, sagte er. »Wenn du stirbst, ist also Brand an der Reihe, richtig?«
»Na ja . . . er ist allerdings ein geständiger Verräter und geht praktisch jedermann gegen den Strich. Ich glaube nicht, daß die anderen ihn so, wie er ist, auf den Thron lassen würden. Andererseits nehme ich nicht an, daß er den Kampf schon aufgegeben hat.«
»Aber die Alternative ist Julian.«
Ich zuckte die Achseln.
»Die Tatsache, daß ich Julian nicht mag, macht ihn nicht automatisch ungeeignet für den Thron. Vielleicht wäre er sogar ein tüchtiger Monarch.«
»Und er hat dich in deinem Zimmer überfallen, um die Chance zu erhalten, dies zu beweisen«, rief Random. »Kommt und eßt.«
»Ich glaube es noch immer nicht«, sagte ich, stand auf und ging zu Random. »Erstens wüßte ich nicht, wie er an mich herangekommen sein sollte. Zweitens wäre es verdammt viel zu offenkundig. Drittens, wenn ich in naher Zukunft sterbe, wird Benedict bei der Nachfolge ein wichtiges Wörtchen mitzureden haben. Das ist allen bekannt. Er hat dazu das Alter, er hat auch das Köpfchen und die Macht. Er könnte beispielsweise einfach sagen: ›Zum Teufel mit der Streiterei, ich unterstütze Gérard‹, und das war´s dann.«
»Wenn er sich nun entschlösse, seinen eigenen Status zu überdenken und selbst auf den Thron zu steigen?« wollte Ganelon wissen.
Wir setzten uns auf den Boden und nahmen das Blechgeschirr zur Hand, das Random gefüllt hatte.
»Wäre es ihm darauf angekommen, hätte er schon längst am Ziel sein können«, sagte ich. »Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Nachkommen einer für null und nichtig erklärten Ehe einzustufen – die günstigste wäre in seinem Fall zugleich die wahrscheinlichste. Osric und Finndo sahen das Problem aus negativster Sicht und kamen zu voreiligen Schlüssen. Benedict wußte es besser. Er hat einfach gewartet. Und so . . . Möglich ist es. Meiner Meinung nach aber unwahrscheinlich.«