»He!«
Er hob kauend den Kopf und schaute in den Wald hinter ihm.
Auch Neala blickte in die Richtung.
Ein Fremder kam auf sie zugerannt.
Der nackte Mann stand auf. Sein zottiger Kopf zuckte von Seite zu Seite, als hoffe er, Hilfe zu finden. Dann preschte er mit einem Aufschrei, der Neala einen kalten Schauder über den Rücken jagte, auf den Neuankömmling zu.
Der blieb stehen und hob ein Gewehr an. Ein Schuss peitschte durch die Nacht und der nackte Mann stürzte vorwärts.
Durch das Summen in ihren Ohren hörte Neala, wie im Wald ringsum ein Gebrüll ausbrach, das an ein hundertfaches Echo des letzten Schreis des toten Mannes erinnerte.
KAPITEL 8
Robbins rannte an der Leiche vorbei. Ohne auf das Geschrei der Vierergruppe zu achten, steuerte er auf den Baum mit den beiden Frauen zu. Er schlang sich das Gewehr über die Schulter, steckte eine Hand in die Tasche und holte einen Schlüssel hervor.
»Wir verschwinden von hier.«
Die Frau, die er wollte, starrte ihn verwirrt an.
Er trat an ihre rechte Seite und schloss die Handschelle auf.
»Du bist einer der Männer vom Pritschenwagen«, sagte sie.
»Stimmt. Ich bringe euch weg von hier. Ich habe dort drüben zwischen den Bäumen ein Auto stehen.« Er ging an ihr vorbei und begann, ihr anderes Handgelenk zu befreien. »Bist du eine gute Läuferin?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Wie heißt du?«
»Neala.«
»Ich bin Johnny Robbins.«
»Ich bin Sherri«, stellte sich die größere Frau vor, die hinter dem Baum hervorkam. Sie streckte ihre Hände aus, von denen die zwei leeren Handschellen baumelten. »Wärst du so nett?«
Rasch entfernte er auch ihre Handschellen. Dann zog er sein Gewehr von der Schulter und ließ den Blick prüfend über die Ränder der Lichtung wandern. Über das Gebrüll der anderen Gefangenen konnte er das Geheul der Krulls hören. Noch war jedoch nichts von ihnen zu sehen.
»Alles klar«, sagte er. »Hier lang.«
»Warte«, hielt Neala ihn zurück. »Wir können die nicht hierlassen.« Sie nickte in Richtung der anderen.
»Und ob wir können. Gehen wir.« Er ergriff Nealas Arm, aber sie riss sich mit einem Ruck los.
»Ohne sie gehe ich nicht.«
»Scheiße«, stieß ihre Freundin hervor.
Neala wirbelte zu ihr herum. »Was ist bloß los mit dir? Wie kannst du auch nur daran denken, diese Leute zurückzulassen?«
»Um meinen eigenen Hintern zu retten, verdammt noch mal.«
»Das können wir nicht tun!«
Robbins stöhnte. Es war dumm, Zeit damit zu vergeuden, die anderen zu befreien. Die Verzögerung konnte sich als tödlich erweisen. Aber wenn er es nicht wenigstens versuchte, würde er wohl keine besonderen Chancen bei Neala haben. »Na schön«, gab er sich geschlagen. »Bleibt dicht bei mir.«
Sie folgten ihm zu dem anderen Baum.
»Alle die Klappe halten!«, herrschte er die vier an.
Sie verstummten. Robbins trat vor den älteren der beiden Männer. »Du musst dich um die anderen kümmern«, erklärte er und befreite sein rechtes Handgelenk. »Ich lasse dir den Schlüssel hier. Wir gehen voraus. Wenn ich kann, halte ich den Wagen für euch an.« Die andere Handschelle schnappte auf. Er drückte dem Mann den Schlüssel in die Hand. »Viel Glück.« Er drehte sich zu Neala um. »Okay?«
»Okay.«
»Dann nichts wie weg.«
Sie rannten los. Robbins übernahm die Führung, hielt sich jedoch zurück, um bei den Frauen zu bleiben. Sie waren wesentlich langsamer, als er erwartet hatte. Verdammt, er hätte den Wagen näher abstellen sollen. Er hatte ihn viel zu weit entfernt geparkt, weil er sich zu Fuß nähern wollte. Reinschleichen, wieder rausschleichen. Mit etwas Glück hätte er Neala rasch und leise befreien und unterwegs sein können, bevor jemand etwas mitbekam. Wenn er diesen einen Mistkerl nicht erschossen hätte ...
Sie hatten den Rand der Lichtung beinahe erreicht, als Neala ihn am Arm packte. »Warte«, stieß sie keuchend hervor. »Wir müssen warten.«
»Was?«
Sie deutete zu der Gruppe, die sich immer noch bei der fernen Baumreihe befand. Der Mann war gerade damit beschäftigt, die Handschellen aufzuschließen.
»Vergiss sie«, herrschte Robbins sie an.
»Wie sollen sie das Auto finden?«
»Ist doch egal. Komm jetzt.«
»Herrgott, Neala!«, sagte Sherri knurrend.
»Schaut!« Robbins deutete auf eine noch weit entfernte Gestalt, die über das Feld auf die Gruppe zueilte. »Da ist noch einer. Und noch einer.« Als er den Blick über die Lichtung wandern ließ, entdeckte er ein halbes Dutzend dunkler
Schemen; einige rannten, andere humpelten, einer robbte wie ein Krebs über den Boden.
»0 mein Gott!«, entfuhr es Neala.
»In ein paar Minuten werden es Dutzende sein. Wenn wir noch länger bleiben, kriegen sie uns auch.« Er zog Neala in den Wald. Zuerst versuchte sie noch, sich zu befreien, dann rannte sie dicht hinter ihm. Er preschte zwischen dunklen Baumstämmen hindurch, kämpfte sich durch hüfthohes Gebüsch, wich Gestrüpp aus, das zu dicht war, um es zu durchdringen, sprang auf einen umgestürzten Baumstamm und hüpfte auf der anderen Seite zu Boden.
Während die Frauen ihm folgten, hielt er inne und lauschte. Das Geheul war verstummt, aber er hörte in der Nähe Krulls - Füße, die über Laub trampelten, rasselnder Atem, das Kauderwelsch ihrer seltsamen Sprache.
»Wir sind fast da«, flüsterte er.
»Die sind überall«, murmelte Sherri. »Das schaffen wir nie.«
»Wir schaffen es.«
Sie liefen weiter. Schließlich erreichten sie das Ende der Straße, wo Robbins sein Auto geparkt hatte. Sein Blick suchte die Umgebung rasch ab. »Alles klar«, sagte er. »Kommt.«
Tief geduckt rannte er zum Wagen. Die Frauen blieben dicht hinter ihm. Robbins legte die Hand auf den Türgriff. Als er die Tür aufziehen wollte, bemerkte er eine Bewegung. Er schaute auf.
Das Gesicht hinter der Autoscheibe verzog sich und entblößte Zähne.
Neala stieß einen erstickten, verängstigten Schrei aus.
Robbins starrte das Gesicht an. Es war schlimm vernarbt. Die Nase glich einem knorrigen Wulst, als wäre sie bei einem Kampf abgekaut worden.
Fünf weitere Gesichter befanden sich im Wagen, alle in seine Richtung gewandt.
Etwas packte seinen Fuß. Er taumelte rückwärts, prallte gegen die Mädchen und trat nach der Hand, die seinen Knöchel festhielt. Drei Krulls begannen, unter dem Auto hervorzurobben.
Die Türen öffneten sich.
Robbins schwang das Gewehr an die Schulter, zielte rasch auf das Gesicht ohne Nase und feuerte. Die Schädeldecke flog davon.
»Weg hier!«, brüllte er.
»Wohin?«
Er schoss erneut; diesmal traf er ein Auge einer der Gestalten an der hinteren Tür.
»Lauft! Um Himmels willen, lauft!«
Von den Handschellen befreit, rannten sie los. Lander übernahm die Spitze und führte die anderen über die Lichtung zu der Stelle, an der die drei Fremden im Wald verschwunden waren.
Er hielt ungeachtet der Schüsse darauf zu, ungeachtet der Frau, die aus dieser Richtung auf sie zukam. Sie war allein, eine bucklige alte Vettel mit weißem Haar und pendelartigen Brüsten, die ihr bis über den Bauch schlackerten. Wenngleich sie mit einer Machete bewaffnet war, konnte sie sich durch ihren verkrüppelten Rücken nicht schnell bewegen. Lander hatte vor, einfach um sie herumzulaufen.
»Dad!«
Jäh schaute er zurück und erblickte einen Mann, der Cordelia verfolgte. Knapp dahinter kamen zwei weitere. Ben ließ sich zurückfallen und rammte den, der sich am nächsten befand, mit der Schulter. Beide stürzten seitwärts.