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Cordie ließ sich auf Hände und Knie fallen, während Ben versuchte, den sich windenden Jungen festzuhalten. Sie tastete auf dem feuchten Boden umher und fand das Messer, rappelte sich auf die Beine und nahm alle Kraft zusammen. »In Ordnung, halt ihn fest.«

Sie drückte die Spitze der Klinge an den Bauch des Jun­gen. Er hörte auf zu zappeln.

»Wo lebst du?«, fragte Cordie.

Der Junge knurrte. Seine Oberlippe kräuselte sich und entblößte die Zähne darunter.

»Ich glaube, er versteht dich nicht«, meinte Ben.

»Ja. Schon möglich.« Sie beugte sich dicht zu dem Jungen. »Sprichst du meine Sprache?«

Wieder knurrte der Junge.

»Das Kind ist ein Tier«, murmelte Ben.

»Junge. Ich suche meine Eltern, meine Mom und meinen Dad. Weißt du, wo sie sind? Wohin bringt ihr die Leute, die ihr fangt? Habt ihr ein Lager oder so?«

»Er kann nicht reden.«

»Was sollen wir mit ihm tun?«, fragte Cordie.

Ben zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob wir ihn gehen lassen sollen. Unmöglich abzuschätzen, was er tun könnte.«

»Tja, ich glaube nicht, dass ich dazu fähig bin, ihn einfach abzuschlachten. Du etwa?«

Ben seufzte. »Eher nicht.«

»He, lass uns deinen Gürtel nehmen. Den können wir ihm um den Hals schlingen, ihn wie eine Leine verwenden und sehen, wohin er uns führt.«

»Wir können es ja versuchen.«

Mit einem Arm um den Hals des Jungen öffnete Ben seinen Gürtel und zog ihn mit einem Ruck aus der Hose. Als er ihn Cordie entgegenhielt, reichte sie ihm das Messer.

Sie schob die breite Lederspitze durch die Schnalle und hob die Schlaufe über den Kopf des Jungen. Ben zerrte den Gürtel zu dem dürren Hals herunter und Cordie zog die Schlaufe stramm.

»Alles klar«, sagte sie. »Lass ihn los. Warten wir ab, was passiert.«

Ben tat, wie ihm geheißen.

Sofort sprang der Junge Cordie an. Sie wich ihm aus, zog kräftig am Gürtel und riss den Jungen von den Beinen. Er fiel ausgestreckt hin und röchelte. Seine Finger krallten sich um den Gürtel, aber Cordie stellte ein Bein auf seinen Rücken und hielt die Schlaufe straff gespannt. Der Junge rollte sich herum. Cordies Fuß rutschte von ihm ab und sie

verlor das Gleichgewicht. Im Fallen entglitt der Gürtel ihren Fingern.

Sie sah, wie Ben zutrat. Sein Schuh prallte in das Gesicht des Jungen, der jäh erschlaffte.

»Der ist ausgeschaltet«, murmelte Ben, nachdem er dem Körper einen Stoß versetzt hatte.

»Tot?«

»Nur bewusstlos, glaube ich.«

Sie nahmen sich die Zeit, Cordies verletzten Arm zu ver­binden. Ben schnitt mit dem Messer des Jungen einen Streifen von seinem Hemd ab und wickelte ihn um Cordies Wunde.

Danach kniete sich Cordie neben den Körper des Jungen. Sie lockerte den Gürtel. Als sie nach der Halsschlagader tastete, spürte sie einen Puls.

»Lassen wir ihn einfach zurück, solange er noch wegge­treten ist«, schlug sie vor.

»Einverstanden.«

Sie entfernten sich von dem Jungen und rannten zwischen die Bäume. Die beiden hatten noch kaum 50 Meter zurück­gelegt, als eine Stimme ein einziges Wort rief: »KRULL!«

Es war nicht die Stimme des Jungen.

Und sie ertönte von hinten. Cordie blieb stehen und drehte sich um.

Der Ruf schien immer noch durch den Wald zu hallen wie ein zorniger Donnerschlag des Hasses.

Ein beklommener Schauder lief Cordie über den Rücken. »Was war das?«, flüsterte sie.

»Ich habe keine ...«

Ein schriller, gellender Schrei des Jungen bohrte sich in ihre Ohren.

Ben packte Cordies Arm. »Komm.«

Sie rannten einige Schritte, dann löste sich Cordie von

Ben. »Warte.« Sie duckte sich hinter einen Baum und zog Ben neben sich. »Wie hat sich das angehört?«, flüsterte sie.

»Wie eine Stimme aus der Hölle.«

»Ich meine, klang es nicht so, als hätte jemand >Krull< gerufen und den Jungen dann vielleicht umgebracht?«

»Ja, so hat es sich angehört.«

»Vielleicht hilft uns derjenige.«

»Du bist verrückt.«

»Nein, wirklich. Wir sind schließlich keine Krulls. Vielleicht versucht der Unbekannte auch, von hier zu ver­schwinden. Genau wie wir.«

»Nicht wie wir. Um Himmels willen, du hast ihn doch gehört. Der klang kaum menschlich.«

»Es könnte ja ...« Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, als sie das laute Knacken von Unterholz vernahm.

Bens Hand verstärkte den Griff um die ihre.

Eine großgewachsene, breite Gestalt stapfte zwischen den Bäumen hindurch.

Cordie vernahm ein ersticktes Wimmern, das aus ihrer eigenen Kehle aufstieg.

Ben preschte los und zerrte an ihrer Hand. Sie riss sie zurück. Ben schaute zu ihr.

Die entsetzliche Stimme brüllte: »KRULL!«

Ben ergriff die Flucht.

Cordie sah, wie die massige Gestalt hinter ihm herhetzte. In einem Streifen Mondlicht erblickte sie flüchtig zottige Arme und dicke Beine.

Dann sah sie nur noch Wald. Sie hörte stampfende Schritte.

»Nicht! Bitte!«, kreischte Ben.

Cordie hielt sich die Ohren zu.

Bens letzter Schrei verstummte jäh.

Cordie rollte sich am Fuß des Baumstamms ein, schlang die Arme um die Knie und lauschte in den Wald. 

KAPITEL 14

»Heilige Scheiße, eine Hütte!«

Robbins schloss zu Neala auf. Sie blieben neben Sherri stehen und starrten zwischen den Bäumen hindurch.

Am Ende einer länglichen, von Mondlicht erhellten Lich­tung stand eine Blockhütte.

»Nicht schlecht«, meinte Robbins. »Das sehen wir uns mal an.«

Er ging als Erster, trat auf freies Gelände hinaus und hielt inne, um den Blick prüfend über die Umgebung wandern zu lassen. Die Lichtung wies mehr als die Größe eines Foot- ballfelds auf, wenngleich sie etwas schmaler zu sein schien. Robbins beobachtete einige Sekunden lang die Ränder des Waldes, nahm jedoch keine Bewegung wahr. Die Hütte präsentierte sich dunkel und wirkte verlassen. »Bleibt dicht bei mir«, forderte er die Frauen auf.

Neala trat rechts neben ihn, Sherri links. Robbins setzte

sich mit dem Gewehr im Anschlag in Bewegung. Der Boden fühlte sich unter seinen Füßen leicht federnd an. Eine kühle Brise strich über seine nackten Arme.

Er sah Neala an. Sie hinkte. Ihre Lippen waren zusam­mengepresst, als verbeiße sie sich Schmerzen. Sie sah sehr tapfer und zugleich verletzlich aus. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen.

Neala bemerkte seinen Blick und rang sich ein Lächeln ab.

»Wie geht es deinen Füßen?«, erkundigte er sich.

»Die haben schon bessere Nächte erlebt.«

Er wandte sich Sherri zu. »Kommst du klar?«

»Muss ich wohl«, gab sie zurück und lachte verbittert.

Als sie sich der Hütte näherten, sah Robbins, dass sie von etlichen Pfählen umgeben war. Jede der hohen Stangen wies einen Querbalken auf, der an die Arme einer Vogelscheuche erinnerte. Oben auf jedem Pfahl prangte eine dunkle Kugel.

Sherri packte seinen Arm, blieb stehen und zog ihn zu­rück. »O Scheiße«, stieß sie hervor. »O verfluchte Scheiße!«

»Das sind Köpfe!«, flüsterte Neala.

Robbins spähte mit zusammengekniffenen Augen zur Spitze des nächstgelegenen Pfahls. Bei der Kugel handelte es sich tatsächlich um einen Kopf, dessen dunkles Haar im Wind flatterte. Er ließ den Blick von einem Pfahl zum ande­ren wandern. Auf jeden war ein Schädel gespießt. »Großer Gott«, entfuhr es ihm. Er trat einen Schritt vor.

Sherri zupfte an seinem Arm. »Da gehen wir nicht rein!«

Er wandte sich Neala zu.

Sie schüttelte den Kopf.

»Die Hütte«, sagte er.

»Ich will nicht«, entgegnete Neala mit einer Stimme wie der eines zu Tode verängstigten Kindes.