KAPITEL 19
Als Cordie erwachte, starrte sie durch das verworrene Blätterdach des Gebüschs und lauschte, wagte nicht, sich zu rühren.
Sie hörte rennende Schritte, Stimmengewirr, ungestümes Gelächter. Den Geräuschen nach zu urteilen, hätte sie vermutet, dass sich mindestens ein halbes Dutzend Teenager in der Nähe befinden musste.
Das Dickicht fühlte sich nicht mehr wie eine Zuflucht an... sondern wie eine Falle.
Sie wollte raus, wegrennen ...
Aber man würde sie vielleicht hören. Vielleicht sogar schon, während sie über das Laub und die Zweige robbte, und dann würde sie gefasst, noch bevor sie frei wäre. Gefangen in den Büschen, wäre sie hilflos. Ein Spielzeug für die Kinder.
Sie würden sich mit ihr vergnügen, sie hänseln, sie schneiden, sie in Brand stecken.
Cordie lauschte dem ausgelassenen Gelächter, den quiekenden Stimmen.
Sie ertönten rings um das Dickicht.
Als wüssten sie, dass Cordie sich darin versteckte.
Sie wollte sich einrollen und die Knie an die Brust ziehen, doch sie wagte nicht, sich zu bewegen. Stattdessen presste sie die Beine zusammen und die Arme an ihre Seiten. Durch das dichte Gezweig starrte sie zum morgendlichen Himmel empor.
Und wartete.
Die Kinder unterhielten sich mit hohen Stimmen in scharfem Tonfall miteinander. Jemand kicherte. Büsche raschelten.
Cordies steifer Körper erzitterte. Ihr Hals schmerzte vor Anspannung.
Sie wissen, dass ich hier bin!
Wie konnten sie es wissen?
Dann vernahm sie die Geräusche von jemandem, der in das Dickicht kroch. Zu ihr.
Scharf sog sie den Atem ein und hielt ihn an, bemühte sich, nicht aufzuschreien.
Alle anderen Geräusche verstummten.
Sie lauschen, dachte sie. Sie sind da draußen und lauschen, warten.
Cordie hob den Kopf. Sie blickte ihren Körper hinab an ihren Schuhen vorbei und sah, wie ein Gesicht auftauchte. Das eines Mädchens. Eines blonden Mädchens mit Zweigen im zerzausten Haar. Eines Mädchens mit Blut an den Lippen, auf den Wangen und am Kinn.
Sie war jung. 13 oder 14. Die sonnengebräunten Schultern schienen nackt zu sein.
Als das Mädchen näher kroch, hörte Cordie, wie ihr eigener Atem hektisch wurde und stoßweise ging. Wie bei einem Hund, der einen Albtraum durchlebt. Sie schluckte, bekam den Speichel in die Luftröhre und schnappte nach Atem.
Das Mädchen robbte neben Cordie. Kratzer überzogen die Haut am Rücken, weitere, die wie die Male von Fingernägeln aussahen und bluteten, prangten auf ihrem Hintern.
Das Mädchen setzte sich auf und überkreuzte die Beine. »Ich bin Lilly«, sagte sie. »Wie ist dein Name?«
Cordie murmelte ihren Namen.
»Wie?«
»Cordelia.«
»Das ist ein komischer Name.« Sie rümpfte die Nase. »Was für ein komischer Name ist das denn?«
»Wer bist du?«
»Lilly.«
»Bist du eine von denen?«
»Klar.« Lilly kratzte eine ihrer winzigen, kegelförmigen Brüste. »Ich bin schon seit ein paar Jahren bei ihnen. Es ist lustig.«
»Lustig?«
»Scheiße, ja!« Sie kicherte. »Keine Schule, niemand sagt mir, was ich zu tun habe, und es wird ständig gefickt. Es ist toll. Wird dir gefallen.«
Cordie schüttelte den Kopf.
»Doch wirklich, du wirst begeistert sein.«
»Ihr seid Mörder.«
»Klar. Es ist echt ein Spaß. Wie auch immer, du sollst rauskommen.«
»Wozu?«
Lilly lächelte und zuckte mit den Schultern. »Du willst bestimmt nicht hier drinbleiben.« Sie beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie, dann flüsterte sie: »Wenn du nicht rauskommst, dann müssen die Jungs reinkommen. Das würde ihnen nicht gefallen. Sie müssten dafür kriechen. Also begleitest du mich besser raus.«
Cordie schüttelte den Kopf.
»Sie werden sonst echt wütend. Damit vertust du dir deine Chance.«
»Was für eine Chance?«
»Dich uns anzuschließen. Wenn sie sauer sind, lassen sie dich nicht.«
»Was passiert, wenn ich mich euch anschließe?«
»Dann töten wir dich nicht.«
»Aber was passiert?«
»Naja, nachdem die Jungs dich in Augenschein genommen haben, musst du eingeführt werden. Danach gehörst du zu uns und kannst so wie wir frei im Wald leben.«
Cordie legte den Kopf auf den Boden. Sie starrte durch das Geflecht der Zweige. Der Himmel präsentierte sich fahl und wolkenlos. »Und wenn ich mich euch anschließe, dann töten sie mich nicht?«
»Nicht, wenn sie dich mögen.«
»Muss ich ... dafür sorgen, dass sie mich mögen?«
»Genau.«
»Und dann töten sie mich nicht?«
»Und du wirst eine von uns. So bin ich dazugekommen. Bei vielen von uns war es so.«
»Ich muss also nur rauskommen und ... und mich von den Jungs vögeln lassen oder so? Das ist alles? Sie werden mich nicht umbringen, sie wollen mich nur ficken?«
»Ja. Das ist so ziemlich alles. Weißt du, danach bringen wir dich ins Dorf. Dort musst du noch ein bisschen Scheiße über dich ergehen lassen, aber das ist ein Klacks. Der alte Grar muss dir seinen Segen geben, so was in der Art. Nichts, worüber du dich sorgen müsstest. Komm.«
Cordie blieb reglos liegen, hatte zu viel Angst, um sich zu bewegen.
Gott, sie wollte nicht hinaus!
»Die Jungs dürften allmählich ungeduldig werden.«
»Okay«, sagte Cordie.
»Du zuerst.«
Cordie zwang sich dazu, sich zu bewegen. Sie drehte sich um und begann, auf dem Bauch zu robben, den Kopf gesenkt.
Was, wenn das Mädchen log?
Was, wenn sie vorhatten, sie zu töten?
Doch sie hatte keine Wahl.
Sie kroch weiter.
Dann sah Cordie sie. Es waren drei. Teenager. Sie kauerten nackt im Sonnenlicht unmittelbar vor den Büschen und glotzten sie an.
Verkrampft vor Angst erstarrte Cordie und schaute zurück zu Lilly.
»Weiter.«
Cordie schüttelte den Kopf.
»Mach schon.«
»Nein!«
Das Geräusch raschelnder Blätter ließ sie den Kopf herumreißen. Zwei der Jungen stürzten auf sie zu, schlugen das Geäst beiseite.
»Nein!«, kreischte sie.
Sie kreischte immer noch, als sie an den Armen gepackt und aus dem Dickicht geschleift wurde.
KAPITEL 20
»Warum kommen sie nicht?«, fragte Neala im Flüsterton, um Johnny nicht zu wecken.
»Du klingst fast so, als wolltest du es«, gab Sherri zurück.
»Wohl kaum.« Neala hatte sich angezogen und stand an der Tür, beobachtete in der Ferne die Krulls. Sie hatte bereits mehrmals versucht, sie zu zählen. Allerdings bewegten sie sich ständig - manche zogen sich in den Wald zurück, andere tauchten auf. Sie kam auf 20, 24, 19, 26. Die Krulls schienen nichts Besonderes zu tun, wanderten nur umher. Wegen der Kreuze und Köpfe konnte Neala sie nicht gut sehen.
»Es ist, als ob sie auf etwas warten«, meinte sie.
»Ja. Auf uns. Warum machst du nicht die Tür zu?«
»Wir müssen Wache halten.«
»Können wir«, erwiderte Sherri. Sie schloss und verriegelte die Tür. »Hier drüben.« Sie ging seitwärts durch die
Dunkelheit und hob eines der Rehfelle an, die an der vorderen Wand hingen. Sonnenlicht schien durch die Lücken zwischen den Holzstämmen.
So also hatte Sherri sie und Johnny beobachtet, dachte Neala. Zorn und Scham regten sich in ihr. Wie viel hatte Sherri gesehen? Alles? Hatte es sie aufgegeilt?
Gott, wie konnte sie nur so tief sinken? Ihre beste Freundin!
Sherri griff nach oben, riss das Fell von der Wand und warf es beiseite. »Besser«, murmelte sie.
Neala spähte durch eine Ritze. Sie konnte genau die Stelle sehen, wo sie mit Johnny gewesen war. Kurz schaute sie höher und zu den Krulls, die nach wie vor jenseits der Pflöcke umherwanderten, dann senkte sie den Blick wieder dorthin, wo sie mit Johnny geschlafen hatte.