Nichts kippte um.
Keuchend lag sie auf der Seite. Sie konnte immer noch die Berührung des Dings fühlen, auf das sie gefallen war. Cordie presste die Augen zu und fasste hinab. Mit dem Handrücken schlug sie es weg.
Dann legte sie sich flach hin und wartete auf den nächsten Schuss.
Es kam keiner.
Schließlich schaute sie zurück. Sherri und Neala waren verschwunden.
Sie stemmte sich auf die Hände und Knie. Vor ihr warteten jenseits des Meers der unzähligen Kreuze die Krulls. Sie schwiegen. Alle schienen sie zu beobachten.
Cordie erinnerte sich an Grars Warnung. Verrätst du uns,
so wird dein Tod schrecklicher sein, als du es dir in Alb- träumen auszumalen vermagst.
Hier können sie mich nicht kriegen, dachte sie.
Sie sackte zurück auf den Boden und bettete das Gesicht auf den Arm, der einen Bluterguss von dem Schürhaken aufwies. Cordie schloss die Augen. Der Boden fühlte sich trotz der kratzigen Zweige und des Unkrauts gut unter ihr an.
Sie würde hierbleiben.
Obwohl der Wind lau wehte, briet die Sonne ihren Rücken förmlich. Schweiß kullerte ihr über die Haut. Manchmal spürte sie das Kitzeln von Insekten. Trotzdem rührte sie sich nicht. Es würde wehtun, sich zu bewegen. Und es würde nichts bringen, denn der Hitze und den Insekten konnte sie nicht entkommen.
Ebenso wenig wie den Schmerzen.
Oder den Krulls.
Nein, so konnte sie den Krulls entkommen.
Nur so.
Nur ...
Dann verschwand die schreckliche Hitze. Sie öffnete die Augen und sah, dass die Dämmerung angebrochen war.
Viele der Krulls waren verschwunden, viele waren geblieben.
Wenn es ganz dunkel wäre, könnte sie vielleicht...
Nein.
Wenn sie wegliefe, würden die Krulls sie finden.
Und ihr unaussprechliche Dinge antun. Verrätst du uns, so wird dein Tod schrecklicher sein, als du es dir in Albträumen auszumalen vermagst.
Sie senkte den Kopf und schloss die Augen.
Das ist ein guter Ort.
Ein guter Ort.
KAPITEL 32
»Nicht, Johnny.«
»Gib mir das Gewehr.«
»Du kannst es nicht schaffen.«
»Ich kann es zumindest versuchen. Ihr beide haltet aus, so lange ihr könnt. Wenn ich nicht mit Hilfe zurückkomme, dann geht ihr zu den Krulls und macht das Beste daraus.«
Sherri reichte ihm das Gewehr.
Johnny benutzte es als Stütze und stemmte sich damit auf die Beine. Er humpelte durch den von Kerzen erhellten Raum. Schweiß strömte ihm über den Rücken. Neala fiel auf, dass er sein verbundenes Bein überhaupt nicht belastete.
»Johnny ...«
»Sobald ich beim Auto bin, kann mir nichts mehr passieren. Es wird bloß länger dauern, als es vorher der Fall gewesen wäre ...« Seine Hand rutschte am Gewehr ab. Er zuckte zusammen und fiel.
Neala stürzte zu ihm.
»Alles in Ordnung, es geht mir gut«, beteuerte er.
»Nein, das stimmt nicht.«
Er stemmte den Gewehrkolben auf den Boden und begann, sich am Lauf hochzuziehen. Mit zusammengebissenen Zähnen blinzelte er sich Schweiß aus den Augen. Sein gesamter Körper zitterte.
Neala ergriff seinen Arm. »Warte. Setz dich und ruh dich eine Minute aus. Bitte.«
Er sank zurück.
»Warte, ich nehme das Gewehr.«
Er umklammerte es.
»Ich muss kurz raus.«
»Schon wieder?«, fragte Sherri.
Neala seufzte. »Muss wohl an etwas liegen, das ich gegessen habe. Oder nicht gegessen habe.«
»Ich komme mit«, schlug Sherri vor.
»Herrgott, ich brauche keine Eskorte.«
»Na schön. Aber beeil dich.«
»Bin gleich zurück.« Sie küsste Johnny flüchtig auf den Mund, dann ging sie zur offenen Tür hinaus. Rasch lief sie zur Rückseite der Hütte. Der Dreiviertelmond hing tief über den fernen Bäumen. Sie wünschte, er wäre nicht so hell.
Neala lehnte das Gewehr an die Hüttenwand und zog ihre Cordhose aus. Sie holte Johnnys Schlüsselbund aus einer Tasche und schob ihn vorne in ihren Slip. Dann streifte sie ihre Bluse ab.
Der Wind war kurz nach Einbruch der Dunkelheit abgeflaut. Die Luft war reglos und warm. Trotz der anhaltenden Hitze zitterte sie, als sie das Gewehr ergriff. Sie hob sich den Tragegurt über den Kopf. Die Waffe klatschte gegen ihren Rücken. Der breite Riemen zerrte an ihrer Schulter, verlief quer über ihren Körper, grub sich in ihre rechte Brust. Neala
rückte ihn so zurecht, dass er sich zwischen ihren Brüsten befand. Dann bahnte sie sich geduckt den Weg zu den Kreuzen.
»Neala!«
Sherris Stimme. Sie schaute zurück und sah, dass ihre Freundin auf sie zurannte.
Neala preschte zu den Kreuzen los, aber Sherri packte sie an den Haaren, riss sie zu Boden und warf sich auf sie. Neala grunzte vor Schmerz, als sich das Gewehr in ihren Rücken bohrte. Sherri ergriff ihre Handgelenke und drückte sie nach unten.
»Lass mich los, verdammt noch mal!«
»Willst du abhauen und umgebracht werden?«
»Runter von mir!«
»Nein. Das kann ich nicht. Ich kann nicht zulassen, dass du das tust, Neala.«
»Wenn ich nicht gehe, wird Johnny es versuchen.«
»Wir können ihn davon abhalten. Zu zweit...«
»Sherri, um Himmels willen, begreifst du denn nicht? Wir können nicht in dieser Hütte bleiben. Sonst sterben wir alle. Selbst wenn die Krulls nicht kommen, selbst wenn dieser Teufel nie kommt, werden wir da drin einfach sterben.«
»Wir könnten uns ergeben und bei den Krulls leben.«
»Klar. Nur was wird dann aus Johnny?«
»Ja, ich weiß.« Sie starrte Neala in die Augen. »Du liebst ihn, nicht wahr?«
»Ja.«
Sie ließ Nealas Handgelenke los und streichelte ihr zärtlich über das Gesicht. »O Neala«, flüsterte sie. »Oh, verdammt noch mal, Neala. Vergiss mich nicht, ja?«
»Was ...«
Sherris Faust schnellte herab und traf Neala seitlich am Kopf. Sie sah die andere Faust kommen und wollte sie
abwehren, doch sie konnte den Ann nicht schnell genug heben. Die Faust traf sie, schleuderte ihren Kopf herum.
Sherris Gewicht verschwand von ihrem Körper. Neala versuchte, den Kopf zu heben, aber es gelang ihr nicht. Sie fühlte sich betrunken, konnte ihre Bewegungen nicht kontrollieren.
Sherri zog den Riemen des Gewehrs von ihren Brüsten. Sie rollte Neala herum und nahm das Gewehr. Neala wippte zurück auf den Rücken. Ohne die harte Waffe fühlte sich der Boden wesentlich angenehmer an.
Sherri ragte wie ein Hüne über ihr auf, während sie sich rasch auszog.
»Nicht.«
Sherri schlang sich das Gewehr auf den Rücken.
Neala hob den Kopf. »Nicht«, wiederholte sie.
»O Neala.« Sherri hockte sich neben sie.
Neala konzentrierte sich auf ihre Arme. Sie fühlten sich schwer an, als hielte sie in jeder Hand einen großen Stein. Trotzdem zwang sie sich, sie zu heben. Sie spürte, wie sich die großen Hände ihrer Freundin unter sie schoben, sie vom Boden hoben. Sherris Brüste streiften leicht die ihren, ihr Mund presste sich auf Nealas Lippen. Sie umarmte Sherri, so innig sie konnte. Dann senkte Sherri sie zurück auf den Boden.
»Du bleibst mit Johnny hier, bis ich mit der Kavallerie zurückkomme«, flüsterte sie.
Dann schlug ihre Faust erneut zu.
Neala wollte die Augen öffnen, konnte es jedoch nicht. Sie versuchte wieder, den Kopf zu heben, aber ihre Halsmuskeln streikten.
Es gelang ihr nicht einmal, als sie Johnny rufen hörte.
Dann war er über ihr.
»Neala? Neala, was ist passiert? Wo ist Sherri?«
Sie stellte fest, dass sie die Augen öffnen konnte. »Weg«, brachte sie hervor. »Gegangen ... Hilfe holen.«
Mehrere Minuten verstrichen, bevor sie in der Lage war, sich aufzurichten. Sie zog ihre Bluse an. »Ich wollte gehen«, erklärte sie. »Ich habe mich ausgezogen, damit ich mehr wie eine von ihnen aussehen würde. Aber Sherri hat mich aufgehalten. Sie ... O mein Gott!« Neala schob die Hand vorne in ihren Slip. »Nein! O Johnny!« Sie zog den Schlüsselbund hervor.