»Paßt auf da vorne!«
Charity fuhr erschrocken aus ihren Gedanken hoch und griff automatisch zur Waffe, aber nicht ihr hatte Kyles warnender Ruf gegolten, sondern Net.
Die junge Wasteländerin reagierte so rasch und kaltblütig, wie Charity erwartet hatte: Auch sie zog ihre Waffe und rührte sich aber nicht von der Stelle, beobachtete aber mit größter Aufmerksamkeit ihre Umgebung.
Doch sie entdeckte genausowenig wie Charity, die nach kurzem Zögern neben sie trat und ihre Blicke über die wuchernde, grüne Mauer schweifen ließ, die sie an drei Seiten umgab.
Ein wenig verärgert drehte sie sich zu Kyle herum. Der Megamann vergewisserte sich mit einem raschen Blick davon, daß Skudder nichts dagegen hatte, wenn er sich von seinem Platz in der kleinen Gruppe löste, und eilte dann zu ihnen. Er sagte kein Wort, sondern deutete nur schweigend auf einen knapp mannshohen, kugelförmigen Busch.
Charity konnte auch jetzt nichts Auffälliges an dem Busch erkennen - abgesehen von den großen, unregelmäßig verteilten Flecken einer weißen, durchscheinenden Substanz, die an den dornigen Zweigen klebte. »Was soll das?« fragte sie stirnrunzelnd.
Statt zu antworten ging Kyle weiter, blieb einen knappen Meter vor dem Busch stehen und streckte den Arm aus. Seine Finger berührten flüchtig einen der weißen Zuckerwatte-Bäusche, worauf die Substanz die Farbe wechselte und zu brodelndem Leben erwachte. Aus dem flockigen Weiß wurde ein stumpfgrauer, zuckender Ball, der eine Sekunde später in einer lautlosen Explosion auseinanderbarst und sich über Kyles Hand ergoß.
Der Megamann wich mit einem hastigen Schritt ein Stück von dem Busch zurück und drehte sich herum. Seine Hand war noch immer grau, aber als er näher kam, erkannten sie, daß es nicht seine Haut war, die sich verändert hatte. Kyles Hand war bis über das Gelenk hinauf mit einer Schicht winzigkleiner, kribbelnder, stumpfgrauer Körper bedeckt; winzige Insekten mit erbsengroßen, pelzigen Leibern und acht vielfach gegliederten Beinen, die sich in rasendem Takt bewegten. Charity verzog angeekelt das Gesicht, als sie begriff, daß es Spinnen waren.
Trotzdem trat sie einen Schritt auf ihn zu und wollte sich neugierig vorbeugen, aber der Megamann hob rasch die andere Hand und machte eine abwehrende Bewegung.
»Vorsicht«, sagte er. »Sie sind sehr giftig.«
Er blickte Net an. »Ein oder zwei Bisse, und du wärest gestorben.«
Net wurde bleich, sagte aber nichts, während auch Skudder und der Zwerg näher kamen. Skudder betrachtete Kyles Hand wie Charity mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu, während Gurks Miene Langeweile ausdrücken sollte.
»Wieso macht es Ihnen nichts aus?« fragte Charity.
»Ich bin immun gegen ihr Gift«, antwortete Kyle. Plötzlich lächelte er, ballte die Hand zur Faust - und die Armee winziger Spinnentiere zuckte wie unter einem elektrischen Schlag zusammen und starb. Die Tiere krümmten sich, zogen die Beine an den Körper und fielen wie grauer Staub von Kyles Hand herab.
»Aber sie nicht gegen Ihres«, murmelte Charity betroffen.
Net fuhr sich nervös mit der Hand über den Mund, blickte den grün-weiß gefleckten Busch vor sich an und machte ganz instinktiv einen Schritt zurück, obwohl sie sich in sicherer Entfernung befand. Verwirrt sah sie zu Kyle auf. »Danke«, murmelte sie. »Ich schätze, du hast mir das Leben gerettet.«
Kyle antwortete nicht darauf, aber Gurk ergriff die Gelegenheit, wieder eine seiner spitzen Bemerkungen loszuwerden. »Ja«, schnappte er. »Ich frage mich nur, warum.«
Charity setzte zu einer scharfen Entgegnung an - aber dann überlegte sie es sich doch anders und wandte sich statt dessen mit einem fragenden Blick wieder an Kyle. »Wissen Sie, Kyle«, begann sie, »es kommt ja selten vor, daß Gurk und ich einer Meinung sind. Aber dieses Mal pflichte ich ihm bei. Warum tun Sie das?« Sie runzelte die Stirn und deutete auf den Busch. »Ich meine, Sie hätten in aller Ruhe abwarten können, bis Net oder ich von diesen Biestern aufgefressen worden wären. Keiner von uns wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, Ihnen einen Vorwurf zu machen.«
»Eine interessante Idee«, antwortete Kyle. Er lächelte flüchtig. »Ich schlage vor, daß wir das nächste Mal zuerst darüber diskutieren, ob ich Sie vor einer Gefahr warnen soll oder nicht.« Diesmal gab er sich nicht einmal die Mühe, den spöttischen Klang aus seiner Stimme zu verbannen.
Aber Charity blieb ernst. »Ich meine es ernst, Kyle«, sagte sie. »Warum tun Sie das? Hat Gurk recht, und es ist nur ein neuer Trick, um uns in eine Falle zu locken?«
Kyle sah sie einen Moment lang durchdringend an, dann schüttelte er wortlos den Kopf.
»Warum dann?« beharrte Charity. »Vorhin, im Transmitter-Raum, Kyle ... die beiden Biester hätten uns erledigt, wenn Sie sie nicht angegriffen hätten. Haben Sie bei Daniel gekündigt und suchen jetzt einen neuen Job? Oder mögen Sie einfach nichts, das mehr als vier Beine hat?«
Wenn Kyle der sarkastische Unterton in ihrer Stimme überhaupt auffiel, so beachtete er ihn jedenfalls nicht. »Ich ... brauche Zeit«, sagte er leise. »Ich muß nachdenken.«
»Worüber?« fragte Charity.
»Vielleicht hat er begriffen, daß er auf der falschen Seite steht«, sagte Net.
Charity bedeutete Net zu schweigen. Der Megamann stand völlig reglos vor ihr. Sein Gesicht verriet nichts von seinen Gefühlen, aber sie glaubte zu bemerken, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Und plötzlich erinnerte sie sich wieder an den Ausdruck fassungslosen Entsetzens in seinen Augen, Sekunden nachdem er aus dem Transmitter getaumelt war. Irgend etwas ging in diesem Mann vor.
»Daniel hat Sie verraten, nicht wahr?« fragte sie leise. »Ich meine - es war kein Zufall oder eine Verwechslung, daß der Moroni Sie angegriffen hat und nicht uns. Das ist doch so, oder?«
»Ich ...« Kyles Lippen begannen zu zittern. Fast hilflos blickte er sich um. Seine Selbstsicherheit war mit einem Schlag wie weggeblasen. »Ich ... weiß es nicht«, sagte er stockend. »Alles ist ... falsch. Das hier ist Shai. Ich darf nicht hierher zurück. Sie werden mich töten, wenn sie mich stellen.«
Es dauerte einen Moment, bis Charity überhaupt begriff, wovon der Megamann sprach. »Shai?« wiederholte sie. »Shai ... Shai-Taan ...«
»Das hier ist der Ort, zu dem die Kinder gebracht werden«, vermutete Skudder. »Die Kinder, die Angela und die anderen Priesterinnen geholt haben, um sie Shai zu weihen. Sie ... sie werden hierher gebracht, an diesen Ort, nicht wahr?«
Kyle sah ihn unsicher an und nickte. Er sagte nichts.
»Was tut ihr mit ihnen?« fragte Skudder. Sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn, und seine Stimme wurde schrill. Plötzlich trat er auf Kyle zu und hob die Hände, wie um ihn zu packen und zu schütteln, berührte ihn aber nicht, sondern starrte ihn nur haßerfüllt an. »Was geschieht mit ihnen? Warum bringt ihr all diese Kinder in diese Hölle? Was tut ihr ihnen an?!«
»Nichts«, antwortete Kyle ruhig.
»Wo sind sie?« brüllte Skudder. »Habt ihr sie umgebracht? Habt ihr sie an ... an diese Bestien hier verfüttert?«
»Red keinen Unsinn, Skudder«, sagte Charity, doch der Shark beachtete sie gar nicht.
Kyle schüttelte den Kopf. Skudder stand mit drohend erhobenen Fäusten vor ihm, aber Kyles Blick zeigte nicht die kleinste Spur von Furcht. Wenn Charity überhaupt ein Gefühl in seinen Augen las, dann allerhöchstens eine milde, sonderbar ziellose Trauer.