Sie legen einen Hinterhalt, dachte Jean verblüfft. Aber wem? Was um alles in der Welt ging hier vor? In all den Jahren, die er jetzt heimlich hierherkam, hatte er niemals so etwas erlebt.
Galten diese Vorbereitungen den Fremden, die er beobachtet hatte?
Es schien Jean die einzig logische Erklärung, und trotzdem ergab sie einfach keinen Sinn, denn wenn es sich bei ihnen wirklich um die Herren der Jäger handelte - warum sollten die Ameisen ihnen dann eine Falle stellen?
Der Gedanke gefiel Jean nicht. Alles in ihm sträubte sich dagegen, aber es gab nur eine einzige Möglichkeit, die Antwort auf diese Frage zu finden. Zitternd vor Furcht löste er sich aus seiner Deckung und schlich auf die Stelle am Waldrand zu, an der die Ameisen verschwunden waren.
5
Vor einer halben Stunde hatten sie ein hohes, pfeifendes Geräusch gehört, das rasend schnell näher gekommen war und dann plötzlich abbrach. Davor waren sie bereits eineinhalb Stunden lang durch den Dschungel marschiert. Die Vegetation wurde immer dichter, und mit der wuchernden, grünvioletten Pflanzenpest nahm auch die Anzahl bizarrer Geschöpfe zu, auf die sie stießen und von denen sie sofort attackiert wurden.
Charity hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft sie angegriffen worden waren; meistens von Geschöpfen, die zu klein waren, um es gleich mit vier ausgewachsenen Menschen aufzunehmen, aber zweimal auch von Kreaturen, die sie nur mit den erbeuteten Laserwaffen hatten abwehren können. Charity hatte den anderen eingeschärft, die Strahler nur im allerhöchsten Notfall zu benutzen. Es mußte für die Moroni ein leichtes sein, die Energieschüsse der Waffen zu messen. Aber sie hatte rasch einsehen müssen, daß dieser Vorsatz nicht durchzuführen war, ganz einfach, weil schon ihre bloße Anwesenheit in diesem Dschungel eine Art permanenten Notfall darstellte.
Selbst ohne Ortungsgeräte würde es den Ameisen nicht besonders schwerfallen, sie aufzuspüren. Sie brauchten nur der Spur aus verbrannten, rauchenden Kadavern zu folgen, die sie hinterlassen hatten, dachte Charity besorgt. Der Gedanke führte ihr noch einmal vor Augen, auf welch entsetzliche Weise sich diese Stadt verändert hatte. Die wuchernde grüne Pest barst vor Leben. Aber es war eine vollkommen fremde, aggressive Ökologie, die die Invasoren von den Sternen hierhergebracht hatten. Und wenn es sich dabei wirklich um eine Kopie ihrer Heimatwelt handelte, dann mußte diese Welt eine wahre Hölle sein.
Anders als auf der Erde schienen auf Moron die Insekten zur herrschenden Spezies geworden zu sein. Im Laufe der letzten beiden Stunden hatte sie Geschöpfe gesehen, die sie sich vorher nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen hätte vorstellen können; gepanzerte, glitzernde, kriechende Kreaturen mit schnappenden Fangzähnen und schimmernden Giftstacheln, die meisten davon absurd groß und häßlich - und so angriffslustig wie ein tollwütiger Straßenköter. Dieser Dschungel war eine einzige, gigantische Falle, in der jeder über jeden herfiel und jeder jeden auffraß, selbst wenn er im gleichen Moment selber aufgefressen wurde.
Obwohl sie ihre Waffen am Schluß immer rücksichtsloser eingesetzt hatten, war keiner von ihnen ohne mindestens ein halbes Dutzend blutiger Schrammen davongekommen. Die Bewohner dieser grünvioletten Hölle waren auch wahre Meister der Mimikry. Es gab nicht wenige darunter, die man erst in dem Moment als lebende Wesen erkannte, in dem sie anfingen, einen aufzufressen.
Charity schrak aus ihren Gedanken, als Skudder, der die Führung übernommen hatte, plötzlich stehenblieb und alarmiert zu ihr zurücksah. Sie wollte eine Frage stellen, aber Skudder hob hastig die Hand. Also holte sie mit einigen raschen Schritten auf und blieb dicht neben ihm stehen.
»Was ist?« fragte sie leise.
Skudder lauschte einen Moment mit schräggehaltenem Kopf und zuckte dann mit den Achseln. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört«, sagte er. »Aber ich muß mich wohl getäuscht haben.«
Auch Charity lauschte. Sie hörte nichts - aber es dauerte nur einen Moment, bis sie begriff, daß Skudder wahrscheinlich genau das aufgefallen war: Es war zu still. Der Chor zischelnder, kreischender, pfeifender Tierstimmen, der sie auf Schritt und Tritt begleitet hatte, war verstummt.
»Was ist los?« fragte Net, die nun zu ihnen aufgeschlossen hatte.
Charity zuckte mit den Achseln und machte eine vage Handbewegung in den Dschungel vor sich. »Es ist zu still«, antwortete sie. »Irgend etwas ... stimmt nicht.«
Charity wollte weitergehen, aber Skudder hielt sie mit einer raschen Handbewegung zurück und trat wortlos an ihr vorbei, wobei er wieder seine Waffe zog. Charity sah ihm stirnrunzelnd nach, verkniff sich aber jede Bemerkung. Sie hatte es niemals gemocht, wenn man sie als eine schwache Frau behandelte, die beschützt werden mußte, aber Skudder hatte schon häufiger bewiesen, daß er über äußerst scharfe Sinne verfügte.
Sie sah sich noch einmal sichernd um, ehe auch sie ihre Waffe zog und weiter ging. Net und Gurk schlössen sich ihr an. Auch die junge Wasteländerin wirkte angespannt, und selbst auf Gurks Gesicht hatte sich ein alarmierter Ausdruck breit gemacht. Skudder war ein paar Schritte vorausgegangen und blieb plötzlich stehen. Einen Moment lang stand er reglos in einer fast erschrockenen Haltung da, dann drehte er sich herum und winkte Charity und den anderen, näher zu kommen.
»Also?« fragte Charity, als sie ihn erreicht hatte.
Statt zu antworten, bog Skudder die Büsche ein wenig mehr zu Seite. Sie hatten den Rand des Waldes erreicht. Vor ihnen befand sich nur noch ein vielleicht fünf oder sechs Schritte messender Streifen, auf dem außer Moos, Pilzen, einem Gewirr graubrauner Luftwurzeln und einiger dürrer Büsche nichts mehr wuchs. Dahinter lag ein sicherlich fünfhundert Meter breiter Graben, auf dessen Boden sich brauner Morast befand: das ausgetrocknete Flußbett. Das jenseitige Ufer schien ein gutes Stück höher zu liegen. Auch dort hatte die wuchernde Vegetation fast alle Spuren menschlicher Zivilisation verschlungen.
Trotzdem hatte Charity das Gefühl, daß sich der Wald dort irgendwie von ihrem unterschied.
»Und was jetzt?« drang Nets Stimme in ihre Gedanken.
Charity zögerte noch einen Moment, dann zuckte sie unschlüssig mit den Achseln und deutete mit einer Kopfbewegung auf das jenseitige Ufer. »Dort hinüber.«
Net blickte unwillig auf den morastigen Graben, schwieg aber.
»Gibt es irgendeinen Grund dafür?« fragte statt dessen Gurk.
Charity überhörte den ärgerlichen Unterton in seiner Stimme geflissentlich und antwortete so ruhig wie es ihr möglich war. »Das ist die Richtung, die uns Kyle geraten hat.«
»Kyle!« Gurk fuchtelte wütend mit den Händen in der Luft herum. »Du scheinst ja regelrecht in diesen widerlichen Kerl verschossen zu sein.«
»Ich traue ihm«, antwortete Charity ruhig.
»Ich auch«, fügte Net hinzu.
Gurk blickte die beiden jungen Frauen böse an. »Na wunderbar«, sagte er giftig, »dann seid ihr ja schon zwei.«
»Drei«, sagte Skudder ruhig. Er lächelte beinahe verlegen, als er Charitys überraschten Blick bemerkte. »Er hatte keinen Grund uns zu belügen«, fuhr er fort. »Er hätte uns jederzeit umbringen können, wenn er gewollt hätte.«
»Vielleicht will er es ja nicht«, sagte Gurk. »Vielleicht hatte er ja andere Pläne mit uns.«
Charity setzte zu einer scharfen Antwort an, besann sich dann aber und schritt voran, um aus dem Wald herauszutreten.
Ein warmer Wind schlug ihnen entgegen, der den Gestank des morastigen Flußgrunds mit sich trug. Schaudernd sah Charity sich um. Sie fühlte sich schutzlos. Trotz aller Gefahren, die er beherbergte, hatte ihnen der Dschungel auch gleichzeitig Deckung geboten. Hier draußen aber bewegten sie sich wie auf dem Präsentierteller. Sie blickte in das leere Flußbett hinab und fragte sich, wieso die Vegetation Morons nicht auch dort wucherte. Der faulige Morast mußte einen geradezu idealen Nährboden für Sporen und Sämlinge bieten, die der Wind herantrug. Aber so weit sie blicken konnte, durchbrach nicht der winzigste grüne oder violette Fleck das monotone Braun des Flusses.