Net trat neben sie und beugte sich behutsam vor, um in die Tiefe zu blicken. »Nicht gerade einfach, dort hinunterzusteigen«, sagte sie. Charity nickte stumm. Das Flußbett war zwar nicht sehr tief, aber das Ufer bestand zum größten Teil aus Mauerwerk, Beton oder Felsen. Es würde ausgesprochen gefährlich werden, dort hinabzusteigen - und auf der anderen Seite wieder hinauf.
»Warum gehen wir nicht über die Brücke?« fragte Gurk. Er hob die Hand und deutete auf eine der halb zerschmolzenen Stahlkonstruktionen, die das ausgetrocknete Bett der Seine in fast regelmäßigen Abständen überspannten.
Charity überlegte nur einige Sekunden, ehe sie den Kopf schüttelte. Es waren mindestens drei Meilen bis zur nächsten Brücke. Und irgend etwas sagte ihr, daß sie sie sowieso nicht benutzen konnten. Es mußte einen Grund haben, daß sich dort wie auf dem Flußgrund nicht die mindeste Spur von Leben zeigte. Mehr denn je kam ihr der tote Fluß wie eine Barriere vor, der sie sich vielleicht schon zu sehr genähert hatten.
Ihr Blick glitt wieder über das Flußbett. Unweit der Stelle, wo sie aus dem Wald getreten waren, ragte ein zwanzig Meter hoher Pfeiler aus Granit aus dem Grund; früher einmal mußte es eine Insel gewesen sein. Jetzt sah das flache Plateau mit dem wuchernden, grünen Bewuchs und den wenigen, zum größten Teil zerstörten Häusern beinahe absurd aus. Es ...
Grüner Bewuchs?
Charity sah noch einmal hin. Die Insel und alles, was auf ihr stand, war von wucherndem Unkraut bedeckt. Hier und da hatten sogar Bäume Wurzeln geschlagen, und an einer Stelle hing ein Geflecht aus grünbraunen Ranken fast bis zum Flußgrund herab.
»Was hast du?« fragte Skudder, dem ihr Erschrecken nicht entgangen war.
Charity deutete nachdenklich auf die kleine Insel. »Die Insel dort.«
Skudder runzelte die Stirn und sah ebenfalls hinüber, aber ihm schien nichts Außergewöhnliches aufzufallen, denn nach einer Weile sah er sie erneut fragend an.
»Sie ist bewachsen«, sagte Charity. »Als einziges weit und breit.«
»Und?«
Charity hob die Schultern. »Es ist seltsam. Ich frage mich, ob es etwas zu bedeuten hat.«
»Vielleicht«, sagte Skudder. »Aber ich werde ganz bestimmt nicht hinaufklettern, um es herauszufinden.«
Sie begannen mit dem Abstieg, der sich als weitaus weniger schwierig erwies, als Charity befürchtet hatte. Die Uferbefestigung bestand an dieser Stelle aus porösem Sandstein, den fünfzig Jahre Wind und Regen rissig hatten werden lassen, so daß ihre Finger und Zehenspitzen bequem Halt fanden. Skudder mit Net bildete auch jetzt die Spitze, während Charity Gurk folgte, der mit seinen viel zu kurzen Armen und Beinen alle Mühe hatte, Schritt zu halten. Zudem gehörte das Klettern nicht unbedingt zu den herausragenden Fähigkeiten des Gnoms. Ein paarmal streckte Charity erschrocken die Hand aus, als es so aussah, als würde er den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen, und einmal mußte sie wirklich zugreifen und ihn am Kragen packen, als der brüchige Stein unter seinen Fingerspitzen plötzlich zerbröckelte. Gurks Dank bestand aus einem giftigen Blick, und Charity nahm sich vor, ihre Hilfe auf den letzten zwei Metern ihres Abstiegs einzustellen.
Und tatsächlich verlor Gurk abermals den Halt, als er sich noch einen guten Meter über dem Boden befand. Der Gnom stürzte rücklings in den Morast. Der Schlamm war tief genug, ihn völlig untertauchen zu lassen. Aber nur für einen Moment. Dann sprang Gurk wieder auf, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht, um sich den Schlamm aus Mund, Nase und Augen zu wischen, und begann nach Leibeskräften zu fluchen. Er schien festen Boden unter den Füßen zu haben, aber er war bis zum Gürtel in dem braunen, übelriechenden Matsch versunken.
Charity sah Gurk einige Augenblicke lang mit unverhohlener Schadenfreude zu, dann kletterte sie vorsichtig weiter und verzog ebenfalls angeekelt das Gesicht, als sie bis über die Knie im Schlamm versank. Er war auf eine unangenehme Weise warm und klebrig. Vielleicht, dachte sie schaudernd, waren sie der Antwort auf die Frage, warum hier unten nichts lebte, näher als sie ahnen mochten.
Sie gönnte sich noch eine weitere halbe Minute lang den Luxus, dem schimpfenden Zwerg zuzusehen, ehe sie sich wieder den anderen zuwandte. Net und Skudder waren ein paar Schritte weitergegangen und wieder stehengeblieben, um aufmerksam zum gegenüberliegenden Ufer hinüberzuspähen.
Auf der anderen Seite rührte sich nichts. Trotzdem empfand Charity ein Gefühl der Beunruhigung, das mit jedem Augenblick stärker wurde. Sie machte einen Schritt und spürte erneut, daß der Schlamm, durch den sie wateten, kein gewöhnlicher Schlamm war, sondern eine braune Substanz, die ziemlich träge dahinfloß. Und wenn sie sich konzentrierte, dann glaubte Charity, ein Vibrieren oder Pochen zu verspüren, etwas wie das kaum wahrnehmbare, unendlich langsame Schlagen eines weit entfernten, gigantischen Herzens.
Im ersten Moment wollte sie den Gedanken als völlig abwegig abtun, aber dann begriff sie, daß es nicht das erste Mal war, daß sie ein solches Gefühl überkam: sich an etwas zu erinnern, woran sie sich gar nicht erinnern konnte, weil sie es nie erlebt hatte. Es begann mit der Sprache: Manche Worte und Begriffe der Moroni rührten etwas in ihr an, als läge tief, tief in ihr ein uraltes Wissen, das nicht erlernt, sondern ererbt war.
Sie verjagte den Gedanken endgültig und ging weiter, blieb aber auch jetzt bereits nach zwei Schritten wieder stehen. Und auch Skudder und Net erstarrten plötzlich.
Der graubraune Schlamm bewegte sich. Eine träge, mühsame Wellenbewegung kräuselte seine Oberfläche; das langsame Herangleiten einer glitzernden Woge, als kröche etwas dicht unter der Oberfläche heran.
Und dann, von einer Sekunde auf die andere, explodierte der Fluß.
Wo bisher nichts als trügerische Ruhe gewesen war, da schoß plötzlich ein halbes Dutzend kochender Schlammgeysire in die Höhe, spritzende Eruptionen aus graubraunem Schleim, die sie mit widerlicher, nasser Wärme überschütteten und sie zurücktaumeln ließen. Und inmitten dieser brodelnden Schlammvulkane erschienen plötzlich dunkle, vielgliedrige Körper!
Charity schrie auf, als die dürren Arme einer Ameise wie stählerne Fangzähne nach ihr schnappten und sie festhielten.
Sie versuchte, sich loszureißen, aber ihre Kräfte reichten nicht. Das Ungeheuer riß sie ohne sichtbare Anstrengung in die Höhe, preßte mit zwei Händen ihre Arme an den Körper und bog mit einer dritten ihre rechte Hand beiseite, als sie die Waffe auf die Ameise richten wollte. Es gelang ihr, den Abzug zu erreichen, aber der giftgrüne Laserstrahl fuhr harmlos an dem Ungeheuer vorbei und verwandelte den Schlamm hinter ihr in kochenden Dampf.
Charity bäumte sich auf, trat mit verzweifelter Kraft um sich und erntete als einzige Reaktion einen stechenden Schmerz, der durch ihren rechten Fußknöchel schoß. Ihre Hände glitten hilflos über den Gürtel, versuchten vergeblich, die zweite Waffe zu ziehen, die sie bei sich trug - aber sie fanden etwas anderes.
Die Ameise stieß einen gellenden Pfiff aus, als Charitys Linke den Körperschild einschaltete und mehr als fünfzigtausend Volt auf das Ungeheuer übersprangen. Ihr Griff lockerte sich. Es stank nach verbranntem Horn.
Charity riß sich mit einer verzweifelten Anstrengung los, stürzte ungeschickt in den Morast und fing sich im letzten Moment wieder. Eine zweite Ameise sprang sie an und wurde wie die erste zurückgeschleudert. Aber der blaue, knisternde Lichtbogen war bereits schwächer geworden, und dieses Ungeheuer blieb nicht liegen wie sein Vorgänger, sondern plagte sich nach einer halben Sekunde umständlich wieder auf. Es griff nicht wieder an, sondern stand einfach da, schüttelte in einer bedrückend menschlich anmutenden Geste den Kopf und sank dann erneut zu Boden.