Charity bedeutete Gurk mit einer Geste, zu Net und dem Fremden hinüberzugehen, und wartete selbst auf Skudder, den das sonderbare Verhalten der Ameisen ebenso überraschte wie sie, denn er blickte fassungslos zu den schwarzen Kreaturen hinüber, die keinerlei Anstalten mehr machten, sich auf ihre wehrlosen Opfer zu stürzen. Erst dann machte er zögernd kehrt.
»Ich verstehe das nicht«, murmelte er. »Was ...«
»Ich auch nicht«, unterbrach ihn Charity. »Aber wir sollten machen, daß wir wegkommen.«
Skudder warf einen letzten Blick auf die Ameisen zurück, dann nickte er hastig und beeilte sich, zusammen mit ihr zu Net und den beiden anderen zu gelangen. Als sie sie erreichten, hatten sie sich der Insel bereits bis auf knapp zwanzig Schritte genähert. Und Charity begriff, warum der junge Franzose sie hierher geführt hatte. Die Granitpfeiler waren glatt wie poliertes Glas, aber sie befanden sich jetzt unmittelbar unter der Stelle, an der sich ein Gewirr von Ranken über ihren Rand schob. Charity bemerkte zwischen den Pflanzen ein starkes Tau, das fast bis zum Flußgrund hinabreichte. Seine Farbe war so perfekt auf den Untergrund abgestimmt, daß man schon sehr genau hinsehen mußte, um es zu entdecken.
Sie kramte ihre halbvergessenen Französischkenntnisse zusammen und fragte den jungen Mann: »Dort hinauf?«
Der Junge sah sie überrascht an. Dann huschte ein flüchtiges Lächeln über seine Züge. »Ja«, antwortete er. »Wir müssen zur Festung, ehe sie wiederkommen.«
Charity nickte; überraschenderweise verstand sie ihn, wenn er langsam sprach. Sie machte sich nichts vor. Die Ameisen würden wiederkommen, und diesmal wahrscheinlich nicht mit einem, sondern gleich mit einem Dutzend bewaffneter Schiffe.
Sie erreichten den Fuß der Insel, und der junge Franzose begann sehr geschickt an dem Tau emporzuklettern. Net folgte ihm auf der Stelle, während Skudder Charity und Gurk zweifelnd ansah. »Schafft ihr das?« fragte er.
Charity nickte nur, aber Gurk widersprach energisch. »Ausgeschlossen!« ächzte er. »Da komm ich nie rauf.«
Skudder seufzte ergeben - und setzte sich den Gnom wie ein Kind einfach auf die Schultern. »Halt dich fest«, befahl er.
Gurk kreischte vor Entsetzen, aber Skudder begann bereits, an dem Tau emporzuklettern, so daß dem Zwerg gar nichts anderes übrigblieb, als sich mit aller Kraft festzuhalten. Charity lächelte flüchtig und warf einen letzten Blick zu den Ameisen zurück. Die Moroni hatten sich wieder am jenseitigen Flußufer gesammelt, aber sie machten weder Anstalten, hinaufzuklettern noch kehrtzumachen und ihnen vielleicht doch noch zu folgen. Sie wirkten völlig hilflos, wie Maschinen, deren Programmierung durcheinandergeraten war.
Sie verscheuchte den Gedanken, griff nach dem Tau und begann, in die Höhe zu klettern. Die Leichtigkeit, mit der der junge Franzose und Skudder diesen Weg genommen hatten, täuschte. Charity mußte ihre letzten Kraftreserven mobilisieren, um sich die fünfzehn oder zwanzig Meter hinaufzuquälen. Sie hätte das letzte Stück wahrscheinlich nicht geschafft, hätte Skudder sie nicht einfach zu sich heraufgezogen.
Charity fiel keuchend auf die Knie herab, rang mühsam nach Atem und preßte die Handflächen gegen den Leib. Ihre Hände brannten wie Feuer; das grobe Tau hatte ihre Haut aufgeschürft.
»Kannst du gehen?« fragte Skudder besorgt.
Sie zwang sich zu einem Lächeln und nickte; was nichts daran änderte, daß Skudder ihr helfen mußte, auf die Füße zu kommen.
»Wir können nicht hierbleiben«, sagte der Hopi besorgt. Er sah ihren Retter an und machte eine fragende Geste. »Und wohin jetzt, du Schlaumeier?«
Natürlich verstand der junge Franzose die Worte nicht. Aber er lächelte trotzdem und deutete auf einen mannshohen Schutthügel. Aus irgendeinem Grund schien er der einzige von ihnen zu sein, der keinerlei Angst hatte. Ganz im Gegenteil - er wirkte fast fröhlich. »Ich bringe euch zur Festung«, sagte er.
Charity sah sich suchend um. Sie erblickte nichts, was einer Festung auch nur entfernt ähnlich sah. Sie beantwortete Skudders fragenden Blick mit einem Achselzucken und trat wortlos hinter den Jungen.
Hinter dem Schutthügel erhoben sich die ausgebrannten Reste einiger kleinerer Häuser. Charity nahm unwillkürlich an, daß ihr Ziel irgendwo dort lag, aber der junge Franzose steuerte zielsicher auf den unkrautüberwucherten Schutthügel zu - und als sie näher kamen, sah Charity, daß es gar keine Schutthalde war. Unter dem wuchernden Grün und Violett schimmerte Stahl.
Überrascht sah sie zu, wie ihr Führer den Vorhang aus Gestrüpp und herabhängenden Ästen teilte. Dahinter kam Panzerstahl zum Vorschein. Der Junge legte die Hand auf einen roten Kreis, der in das Metall eingeätzt war, und in der Metallfläche öffnete sich eine mannshohe Tür, hinter der mildes, gelbes Licht schimmerte.
»Was ist das?« fragte Skudder mißtrauisch, während der Franzose gebückt durch die Tür trat, sich herumdrehte und ihnen aufgeregt zuwinkte, ihm nachzukommen.
»Ich bin nicht sicher«, antwortete Charity, »aber ich glaube, ich weiß es.«
Sie war die erste, die hinter dem Franzosen durch die Tür trat. Der Raum war winzig und ziemlich niedrig und vollgestopft mit Computern, Monitoren und drei wuchtigen Schalensitzen, die fast den gesamten vorhandenen Innenraum einnahmen. Ein kaum hörbares, beruhigendes Summen erfüllte die Luft: Ein Großteil der Anzeigetafeln und Monitore war in Betrieb.
Sie trat ein Stück zur Seite, um Skudder, Net und Gurk Platz zu machen, die sich hinter ihr durch die niedrige Tür zwängten. Der Junge berührte eine Taste an der Wand, und das Panzerschott schloß sich wieder. Dann drehte er sich mit einem triumphierenden Lächeln zu Charity um und machte eine dramatische, auf Wirkung bedachte Geste.
»Willkommen in meiner Festung«, sagte er.
»Festung?« Charity lächelte flüchtig, sagte aber sonst nichts, sondern sah sich gründlicher um. Sie wußte, wo sie waren. Sie hatte ein solches Fahrzeug niemals betreten, aber sie hatte genug Bilder davon gesehen. Was sie überraschte war, daß es noch existierte - und ganz offensichtlich noch funktionierte.
»Was zum Teufel ist das?« fragte Skudder noch einmal.
»Ein Leopard 2000«, antwortete Charity.
Skudders Gesichtsausdruck wurde noch fragender.
»Ein Panzer«, fügte sie rasch hinzu. »Die neueste Entwicklung der deutschen Wehrtechnik. Exklusiv für die NATO und den Export in die USA gebaut.« Charity spürte einen raschen, unangenehmen Schauer. Der Anblick dieses Panzers hätte sie mit Befriedigung erfüllen sollen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Dieses unversehrte Relikt aus einer fernen Vergangenheit erinnerte sie daran, auf welch fürchterliche Weise sich ihre Heimatwelt verändert hatte.
»Ein Panzer?« vergewisserte sich Skudder. »Du meinst, so etwas wie die Tanks, die wir drüben hatten?«
»Nicht im entferntesten«, antwortete Charity. »Das hier ist das Nonplusultra irdischer Technik. Das Ding kann es mit einer ganzen Ameisenarmee aufnehmen.«
Skudder war noch immer verwirrt. »Du ... du meinst, dieser Panzer hat den Gleiter abgeschossen?«
Charity nickte. »Das Ding ist mit einem Hundert-Megawatt Rubin-Laser bestückt«, antwortete sie. »Wenn du willst, dann kannst du den Eiffelturm damit absägen.«
»Dann sind wir hier sicher?« fragte Net zögernd.
Charity überlegte einen Moment. »Ich fürchte, nein«, sagte sie dann. »Ich habe keine Ahnung, wieso er nach all dieser Zeit noch funktioniert, aber ich möchte lieber nicht hier sein, wenn unsere Freunde begreifen, womit sie es zu tun haben.«