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Sie sah wieder den Jungen an. »Gibt es noch weitere Tanks?« fragte sie mit einer Geste, die den ganzen Innenraum einschloß.

Ganz offensichtlich verstand der junge Franzose ihre Frage nicht, denn er runzelte nur die Stirn.

»Ich meine«, erklärte Charity, »ist das der einzige Panzer, den ihr habt? Oder ...«

»Das ist die Festung«, unterbrach der Junge. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

Charity unterdrückte ein enttäuschtes Seufzen. »Ich fürchte, ich muß Sie enttäuschen«, sagte sie in gebrochenem Französisch. »Das hier ist keine Festung. Wo leben Sie? In der Freien Zone?«

Der Junge nickte, und für einen ganz kurzen Moment glaubte sie, ein mißtrauisches Flackern in seinem Blick wahrzunehmen.

»Was ist das für eine Sprache?« erkundigte sich Skudder.

»Französisch«, antwortete Charity. »Das hier ist Paris. Die Hauptstadt von Frankreich.«

»Ich wußte gar nicht, daß du Französisch sprichst«, sagte Gurk mit einem anzüglichen Grinsen. Charity schenkte ihm einen giftigen Blick und wandte sich wieder an den jungen Mann.

»Wie ist Ihr Name?« fragte sie.

»Jean.«

»Gut, Jean«, sagte Charity. »Ich danke Ihnen, daß Sie uns das Leben gerettet haben. Aber ...«

»Das war ich nicht.«

Charity sah ihn verdutzt an. »Wie?«

»Ich war es nicht«, wiederholte Jean. »Ich war draußen bei Ihnen, um Sie zu warnen. Die Festung muß von sich aus das Feuer eröffnet haben.«

Plötzlich leuchteten seine Augen voller jugendlicher Begeisterung auf. »Ich wußte immer, daß sie bewaffnet ist«, sagte er. »Aber ich wußte nicht, wie stark sie ist. Jetzt können wir mit den Ameisen aufräumen. Und mit den Jägern.«

Bei diesem letzten Wort veränderte sich seine Stimme. Sie bebte plötzlich vor Haß.

»Ich fürchte beinahe, daß wir noch ein wenig warten müssen«, sagte Charity vorsichtig. Sie sprach jetzt langsam, in sehr geduldigem Tonfall. »Sie werden wiederkommen, Jean. Und dann sind wir hier nicht mehr sicher.«

»Unsinn!« widersprach Jean heftig. »Sie haben doch selbst gesehen, was ...«

»Ich weiß, was dieses Fahrzeug kann«, unterbrach ihn Charity sanft. »Ich weiß das wahrscheinlich besser als Sie. Aber ich kenne auch seine Grenzen. Glauben Sie mir, wir müssen hier weg.«

»Die Festung ist unbesiegbar«, beharrte Jean. »Selbst wenn sie mit hundert Schiffen kommen!«

»Das mag schon sein«, sagte Charity ernst, »aber Sie dürfen die Moroni nie unterschätzen. Sie verfügen über Waffen, die Sie sich nicht einmal vorstellen können, Jean. Möchten Sie vielleicht in diesem Tank stecken, wenn sie einen Nuklear-Sprengsatz auf die Insel werfen?«

Jeans Gesichtsausdruck nach zu schließen schien er nicht einmal zu wissen, was eine Nuklearwaffe war. Aber er schien zumindest zu begreifen, wie ernst Charitys Worte gemeint waren, denn er widersprach nicht mehr.

»Die Freie Zone«, fuhr Charity fort. »Können Sie uns dort hinbringen?«

Der junge Mann zögerte. Einen Moment lang tastete sein Blick unsicher über Net, Skudder und Gurk. Dann nickte er zögernd.

»Sie können uns trauen, Jean«, sagte Charity lächelnd.

»Wer sind Sie?« fragte Jean. »Und wer sind die da?« Er deutete auf Gurk und die beiden anderen.

»Wir werden Ihnen alles erklären«, antwortete Charity, »aber jetzt müssen wir gehen. Und sei es nur«, fügte sie einer plötzlichen Eingebung folgend hinzu, »um diesen Panzer zu retten. Wenn sie zurückkommen und wir nicht mehr hier sind, dann finden sie ihn vielleicht nicht.«

Der junge Franzose zögerte noch immer. »Sie waren nicht allein«, sagte er. »Sie hatten einen Jäger bei sich. Warum?«

»Einen Jäger?«

»Kyle«, sagte Gurk. »Er hat den Megamann gesehen.«

»Sie meinen den Mann in der schwarzen Montur, der uns eine Weile begleitet hat?« vergewisserte sich Charity.

Jean nickte. »Den Jäger«, sagte er. »Was haben Sie mit ihm zu schaffen? Wieso war er bei Ihnen? Und wieso hat er Sie nicht angegriffen?«

»Auch das erkläre ich Ihnen - später«, sagte Charity. Sie machte eine Handbewegung auf die summenden, flackernden Kontrollinstrumente des Panzers.

»Bitte, Jean. Dieses Fahrzeug reagiert vollautomatisch, wie Sie selbst gesehen haben. Wenn sein Elektronenhirn zu dem Schluß kommt, daß wir in Gefahr sind, dann wird es das Feuer auf die Ameisen eröffnen. Und dann verlieren Sie es.«

Ihre Rechnung ging auf. Jean überlegte noch einen kurzen Moment, aber dann schien er einzusehen, daß Charity recht hatte.

»Also gut«, sagte er schweren Herzens, »dann kommt mit.«

Sein Blick glitt fast wehmütig über die flackernden Kontrollinstrumente. Charity wartete darauf, daß er sie ausschalten würde. Aber er tat nichts dergleichen, sondern drehte sich schließlich mit einem Seufzen um und ging zur Tür.

»Schalten Sie ihn nicht ab?« Charity sah ihn verwirrt an.

»Abschalten?«

Charity deutete auf das Kontrollpult. »Der Motor läuft noch«, sagte sie.

»Welcher Motor?« erkundigte sich Jean verwirrt.

Charity sah ihn erstaunt an. Offensichtlich hatte er nicht nur keine Ahnung, was er gefunden hatte, sondern auch alles völlig unverändert gelassen. So unglaublich ihr der Gedanke im ersten Moment selbst vorkam: Der Motor dieses Leopard mußte seit Jahren laufen, seit mehr als fünfzig Jahren.

Also war es besser, wenn sie nichts anrührten. Gott allein mochte wissen, was geschah, wenn man einen Nuklear-Motor ausschaltete, der seit fünfzig Jahren lief ...

Sie wandte sich zur Tür und prallte fast gegen Net, die mit angeekelter Miene versuchte, ihre Kleider von dem grauen Morast zu reinigen. »Was zum Teufel ist das für ein Zeug?« schimpfte die junge Wasteländerin. »Es ist schlimmer als Kleister!«

Jean sah sie fragend an, und Charity übersetzte sinngemäß.

»Manna«, sagte Jean.

Gurk sah ihn verwirrt an.

»Wir nennen es nur so«, sagte er. »Ich würde Ihnen nicht raten, etwas davon zu essen. Aber der Ameisenbrut schmeckt es ausgezeichnet.«

»Ameisenbrut?«

»Junge Ameisen«, erklärte Jean. »Die Eier, die die Königin legt, werden in den Fluß gebracht, wo sie ausschlüpfen. Die Jungen leben ausschließlich vom Manna, bis sie ausgewachsen sind und an Land kriechen. Aber sie verschmähen auch eine kleine Zwischenmahlzeit nicht, wenn sie sie kriegen können.«

»Das haben wir gemerkt«, erklärte Charity.

6

Er war verwirrt. Er hatte ein Gefühl kennengelernt, das er bis zu diesem Moment nicht gekannt, ja, nicht einmal für möglich gehalten hatte: das Gefühl, hilflos zu sein, nicht zu wissen, was er als nächstes tun sollte. Zum ersten Mal im Leben stand Kyle vor einer Situation, die er nicht einschätzen konnte. Alles war so anders gewesen; die Dinge hatten sich auf eine Art entwickelt, die ihn nicht nur überrascht, sondern ihn zutiefst erschüttert hatte. Er fühlte sich aus der Bahn geworfen. Sein Leben, das bisher nur aus Gehorchen bestanden hatte, war vollkommen durcheinander geraten. Er wußte nicht, wieso er hier war. Er wußte nicht, warum Stone ihn in den Transmitter gestoßen hatte. Und er wußte noch viel weniger, wieso er Captain Laird nicht gefangengenommen und die anderen getötet hatte, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Alles war so verwirrend, so scheinbar völlig sinnlos. Er spürte eine neue Art von Schmerz; eine tiefe, dunkle Leere, die sich in seinem Inneren ausbreitete. Er wußte nicht, wieso er überhaupt noch lebte.

Von allen Rätseln war dies vielleicht das größte. Die genetische Umprogrammierung, die mit dem Zellcode seiner DNS vorgenommen worden war, machte ihn nicht nur vom Menschen zum Übermenschen, sondern hätte auf der Stelle seinen Tod herbeiführen müssen; im gleichen Moment, in dem er aus dem Transmitter trat und begriff, daß es tatsächlich Shai war, wo die Verbindung endete.