Aber er lebte, und er hatte etwas Unvorstellbares getan: Er hatte die Herren verraten. Er hatte Captain Laird nicht nur nicht gefangengenommen, wie es sein Auftrag gewesen war, er hatte ihr und den anderen darüber hinaus zur Flucht verhelfen und dabei zwei Dienerkreaturen getötet. Außerdem trug er die Schuld am Tod der Priesterin. Die alte Frau mußte den Verstand verloren haben, als sie ihn erblickte.
Was immer sein Erscheinen für sie bedeuten mochte, es mußte so schlimm gewesen sein, daß sie es vorgezogen hatte, lieber zu sterben als sich von ihm berühren zu lassen.
Vielleicht, dachte er, lag es an seinen Verletzungen. Er war schwerer verwundet worden als jemals ein Megakrieger zuvor. Captain Lairds Angriff in der Wüste hatte ihn fast umgebracht. Er war auch längst nicht wieder völlig hergestellt gewesen, als er in das Shai-Taan eingedrungen war und sich plötzlich von Dutzenden von Stones eigenen Ameisen attackiert sah. Vielleicht war etwas in seinem Gehirn in Unordnung geraten.
Kyle wußte, wie anfällig dieses Organ trotz aller Veränderungen war, die man daran vorgenommen hatte. Das war eine Gefahr, auf die ihn seine Lehrer immer wieder hingewiesen hatten: Gleichgültig, was man ihm antat, es gab kein Organ in seinem Körper, das sich nicht in kürzester Zeit selbst zu reparieren imstande war. Die einzige Ausnahme bildete das Gehirn. Es war zu komplex, als daß sich seine Zellen beliebig reproduzieren konnten.
Natürlich hatte man auch für diesen Punkt vorgesorgt. Kyle wußte, daß es in seinem Gehirn eine biologische Schaltung gab, die nichts anderes tat, als ununterbrochen die Funktionen der übrigen Gehirnzellen zu überprüfen; wie ein ständig ablaufendes Computerprogramm in einem hochkomplizierten Rechner. Und daß diese Zellgruppe augenblicklich zu seinem Tod führen würde, wenn sie feststellte, daß seine Fähigkeit zu logischem Denken und Handeln über ein gewisses Maß hinaus eingeschränkt war. Aber was, dachte er, wenn ausgerechnet dieser Teil seines Gehirns ausgeschaltet war?
Er verfolgte den Gedanken nicht zu Ende. Nein, was mit ihm geschehen war, hatte nichts mit irgendeiner organischen Fehlfunktion zu tun oder einem Fehler in seiner Grundprogrammierung.
Er mußte an das denken, was Captain Laird ihm gesagt hatte. Die Worte hätten ihn nicht beeindrucken dürfen, aber sie hatten es getan und etwas in ihm angerührt. Es war, als erwache etwas in ihm, ein völlig anderer Kyle, der nichts mit dem Megakrieger zu tun hatte, der er fünfundzwanzig Jahre seines Lebens gewesen war. Er wußte noch nicht, was er von diesem neuen Kyle halten sollte - aber er machte ihm angst.
Einer seiner hypersensibilisierten Sinne meldete sich, und Kyle reagierte instinktiv. Blitzschnell warf er sich zur Seite, rollte mit einer katzenhaften Bewegung hinter den Stamm eines mächtigen Baumes und nahm sich erst dann die Zeit zu lauschen.
Die Gerüche und optischen Eindrücke des Waldes schlugen wie eine Woge über ihm zusammen und verwirrten ihn für einen Moment total. Er begriff, daß er für eine Zeit, die er nicht einmal zu schätzen imstande war, fast blind durch den Dschungel gelaufen sein mußte. Er hatte kaum etwas in seiner Umgebung wahrgenommen, sondern war nur mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen beschäftigt gewesen. Und das erschreckte ihn erneut. Hatte er nicht gelernt, seine ganze Aufmerksamkeit seiner Umgebung zu schenken, ganz egal, wo er war oder welche Probleme ihn beschäftigten? Was um alles in der Welt geschah mit ihm?
Kyle begriff, daß er schon wieder dabei war, sich mehr auf seine eigenen Gedanken als auf seine Umgebung zu konzentrieren, und zwang sich, die Augen zu schließen und auf das Geräusch zu lauschen, das ihn gewarnt hatte.
Im ersten Moment gelang es ihm kaum; im Dschungel erklangen die verschiedensten Laute - das Rascheln des Windes in den Baumwipfeln, das Kreischen und Schreien von Tieren, die Schritte winziger harter Insektenfüße auf Blättern und Boden ...
Zum ersten Mal im Leben verfluchte Kyle die unnatürliche Schärfe seines Gehörs, denn es ermöglichte ihm nicht nur, die Atemzüge eines Menschen auf fünfzig Meter Entfernung zu registrieren, sondern ließ ihn auch die zahllosen anderen Laute hören, die immer und überall da waren, selbst wenn ein gewöhnliches menschliches Ohr nur Stille vernahm. Normalerweise war er in der Lage, all diese störenden Geräusche einfach herauszufiltern, aber das fiel jetzt plötzlich schwer. Er brauchte endlos lange, bis er den Laut wiederfand, und dann noch einmal Sekunden, bis ihm klar wurde, was er da hörte.
Es waren Schritte. Die Schritte von zwei Männern und vier oder fünf Dienerkreaturen, die sich seinem Versteck rasch näherten. Und die sich auch keine besondere Mühe gaben, leise zu sein. Sie schienen sich sehr sicher zu fühlen - und warum auch nicht? Schließlich war das hier ihr Revier, der Ort, an dem sie zu Hause waren.
Kyle lauschte noch einen Moment, dann richtete er sich auf und schlich ein paar Schritte nach links hinter den Stamm eines umgestürzten Baumes. Der durchdringende Fäulnisgestank würde seinen eigenen Geruch überdecken.
Kyle wartete. Es vergingen nur wenige Augenblicke, bis die Schritte auch einem normalen menschlichen Beobachter aufgefallen wären, und schließlich sah er sie. Das Unterholz begann zu zittern, als eine der vorauseilenden Dienerkreaturen mit ihren kräftigen Armen einen Weg für die beiden Männer bahnte. Kyle hörte auf zu atmen, und für eine knappe Minute hielt er sogar seinen Herzschlag an.
Die beiden Männer waren Megamänner wie er. Sie waren noch sehr jung, aber sie verhielten sich selbst für Schüler beinahe sträflich leichtsinnig. Die Tarnvorrichtung ihrer Chamäleon-Anzüge war nicht eingeschaltet, so daß sich das lichtschluckende Schwarz des Gewebes deutlich vom Grün und Violett des Dschungels abhob. Und statt auf ihre Umgebung zu achten, schienen sie sich vollkommen auf die Aufmerksamkeit der Dienerkreaturen zu verlassen, denn sie waren in ein intensives Gespräch vertieft. Kyle achtete nicht auf die Worte, aber er konnte ihr Lachen hören, und einer der beiden deutete immer wieder auf den Busch vor sich.
Narren, dachte Kyle voller Verachtung. Selbst dem riesenhaften Eingeborenen mit der roten Haut, der Captain Laird begleitete, wäre es wahrscheinlich leichtgefallen, die beiden zu überraschen. Er würde die beiden töten können, ehe sie auch nur begriffen, daß sie in Gefahr waren, und ...
Kyle spürte einen neuerlichen eisigen Schrecken, als ihm klar wurde, was er tat. Er betrachtete diese beiden Megamänner mit den Augen eines Feindes. Er schätzte seine Chancen ab, sie zu überwinden; die Killermaschine, die er war, lief bereits auf Hochtouren - aber das dort vorne waren seine Brüder! Was um alles in der Welt geschah mit ihm?!
Mit einem plötzlichen Ruck stand er auf und hob beide Arme. Wenn schon nicht diese beiden Narren, so registrierten doch zumindest die Dienerkreaturen diese Bewegung, denn zwei von ihnen fuhren blitzartig herum und zogen ihre Waffen. Aber sie feuerten nicht, als sie erkannten, wen sie vor sich hatten.
Auch die beiden jungen Krieger unterbrachen endlich ihre Unterhaltung. Einer von ihnen war immerhin geistesgegenwärtig genug, die Farbe seines Anzuges dem Hintergrund anzugleichen. Der andere starrte Kyle nur aus weit aufgerissenen Augen an. Kyle verspürte für einen Moment nichts anderes als den intensiven Wunsch, diesem jungen Narren eine Lektion zu erteilen.
Aber natürlich tat er es nicht. Er blieb reglos stehen, dann trat er mit einem großen Schritt über den umgestürzten Baum hinweg und näherte sich den beiden Kriegern. Die Dienerkreaturen folgten seiner Bewegung aufmerksam mit ihren Waffen, unternahmen aber nichts, sondern ließen ihre Blicke nur unschlüssig zwischen ihm und den beiden jungen Kriegern hin- und herschweifen.
Kyle näherte sich den beiden bis auf drei Meter.