Jean nickte eifrig. »Sie hätten es sehen sollen, als ich es bekam. Der reinste Schrotthaufen. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um es zu bauen. Aber jetzt ist es das schnellste, das es in der ganzen Zone gibt.«
»Sie meinen, Sie sind nicht der einzige, der so etwas hat?« unterbrach ihn Charity.
Jean blickte sie an, als hätte sie ihn gefragt, ob die Sonne morgens aufging. »Natürlich nicht«, antwortete er. »Die meisten haben ein Pibike. Wie sollte man sonst von einem Ort zum anderen kommen?«
»Natürlich«, antwortete Charity mit einem unsicheren Lächeln. »Was für eine dumme Frage.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung in die Dunkelheit hinter Jean. »Es gibt also noch mehr von diesen Tunnelverbindungen?«
»Jede Menge. Ich kenne allein zwei Dutzend Tunnel. Einige sind eingestürzt, und zwei oder drei wurden gesperrt, nachdem ein paar Männer nicht zurückkamen, die sie erforschen wollten. Aber im allgemeinen sind sie sicher«, fügte er fast hastig hinzu, als er sah, daß Charity leicht zusammenfuhr. »Die Ameisen kommen nie hier herunter, und die Jäger auch nicht. Ich glaube, sie wissen gar nicht, daß es diese Gänge gibt.« Er schwieg einen Moment. »Da ist allerdings ein kleines Problem«, sagte er.
»Ja?«
»Ich kann nur einen von euch mitnehmen, allenfalls noch den Zwerg. Aber die beiden anderen müssen hier warten, bis ich zurückkomme.«
»Wir können laufen«, sagte Charity. »Fahren Sie einfach voraus und zeigen uns den Weg.«
»Laufen?!« Jean lachte, als hätte sie einen guten Witz gemacht. »Es sind fast zehn Kilometer. Ich brauche nur ein paar Minuten mit dem Pibike. Aber ich muß eben dreimal fahren.«
Charity übersetzte den anderen, was er gesagt hatte. Skudder verzog verärgert das Gesicht. »Eher krieche ich den ganzen Weg auf Händen und Füßen, als daß ich mich auf dieses Ding setze«, erklärte er. Net runzelte nur die Stirn, aber Gurk beeilte sich, Skudder mit einem heftigen Nicken beizupflichten.
»Unsinn!« entgegnete Charity. »Wir haben weder die Zeit noch die Kraft, sechs oder sieben Meilen durch eine leere Pipeline zu laufen. Der Junge hat recht - einer von uns sollte mitfahren und mit seinen Leuten sprechen, und die anderen warten hier.« Sie deutete auf die Wunde in Skudders Oberarm, wo ihn der glühende Metallsplitter getroffen hatte. »Das beste wird sein, du begleitest ihn. Du brauchst einen Arzt.«
Skudder machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du fährst«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch mehr duldete.
»Er hat recht«, fügte Net hinzu. »Schon, weil du die einzige von uns bist, die seine Sprache spricht. Skudder und mir würde es schwerfallen, irgendwelche Fragen zu beantworten.«
»Und sie sind vielleicht nicht alle so freundlich wie dieser Kindskopf da«, fügte Gurk hinzu.
Charity sah den Zwerg ärgerlich an, aber sie widersprach nicht mehr. Der Gedanke, die drei anderen hier allein zurückzulassen, behagte ihr nicht, aber ihr blieb keine andere Wahl. Schweren Herzens nickte sie. »Also gut. Ich schicke ihn so schnell wie nur möglich zurück.«
Sie drehte sich um, ging zu Jean zurück und wollte zu ihm in den Sattel des Pibikes klettern, aber der Junge schüttelte den Kopf und bedeutete ihr mit einer Geste, noch einen Moment zu warten. Verblüfft sah sie zu, wie er sich über den Lenker beugte, sich einen Moment daran zu schaffen machte - und ihn dann mit einem Ruck abzog. Er drehte sich geschickt im Sattel des Motorrades herum, rutschte an sein hinteres Ende und befestigte ihn dort. Einen Augenblick später erlosch der Scheinwerfer, der Charity und die anderen bisher geblendet hatte, und dafür flammte auf der anderen Seite des Pibikes ein weißes Licht auf. Wahrscheinlich hat das Ding sogar zwei Motoren, dachte Charity verblüfft, oder der Junge hatte die Maschine so umgebaut, daß sie genauso schnell rückwärts wie vorwärts fuhr.
Sie warf Skudder einen letzten Blick zu, auf den sie ein fast schadenfrohes Grinsen des Hopis erntete, dann stieg sie hinter Jean in den Sattel des umgebauten Motorrads. »Halten Sie sich fest«, sagte Jean. »Es könnte ein bißchen holpern.«
Er startete den Motor. In dem engen, leeren Eisenrohr klang das Dröhnen der Maschine noch lauter, als es eigentlich war, und Charity mußte sich im ersten Moment beherrschen, um nicht erschrocken die Hände vor die Ohren zu schlagen.
»Fertig?« schrie Jean über das Brüllen des Motors hinweg, wobei er nervös am Gasgriff spielte und die Maschine immer wieder aufheulen ließ, als ob das Ding nicht schon genug Lärm machte.
»Fertig«, antwortete Charity. In der nächsten Sekunde klammerte sie sich mit aller Kraft um seine Hüfte und kämpfte verzweifelt darum, nicht einfach rücklings von der Maschine heruntergeschleudert zu werden, denn der junge Franzose gab rücksichtslos Gas: Die Maschine machte einen gewaltigen Satz nach vorn und raste wie ein Geschoß durch die Pipeline.
»Nicht so schnell!« brüllte Charity über das Kreischen des überdrehten Motors hinweg.
Tatsächlich nahm Jean ein wenig Gas weg und schaltete in einen höheren Gang, so daß das Dröhnen der Maschine nicht mehr ganz so ohrenbetäubend war.
»Fahren Sie nicht so schnell, Jean«, schrie Charity noch einmal. »Ich bitte Sie! Ich möchte lebend bei Ihren Leuten ankommen.«
Jean grinste sie über die Schulter hinweg voll jugendlicher Fröhlichkeit an. »Wir müssen so schnell fahren!« schrie er zurück.
»Aber warum denn?« brüllte Charity. »Es spielt doch gar keine Rolle, ob wir eine Minute eher oder später ...«
Ein großer grauer Schatten huschte an ihnen vorüber, so schnell, daß Charity nicht einmal erkennen konnte, was es war, aber dem ersten Schemen folgte ein zweiter, dritter, und schließlich eine ganze Horde grauer, zottiger Körper.
Instinktiv klammerte sie sich fester an Jean und sagte nichts mehr, als er erneut Gas gab und das Pibike noch mehr beschleunigte. Das Muster aus schwarzen und roten Flecken an den Wänden der Pipeline wurde zu einem Mahlstrom aus Farben und Bewegung, der an ihnen vorüberjagte wie Sturmwolken in einem zu schnell ablaufenden Film.
Und immer wieder huschten diese grauen Körper vorbei: große, zottige Wesen mit glitzernden Augen und Krallen, die wie kleine Messer über den Stahl kratzten und manchmal nach ihnen zu schlagen versuchten, sie aber nicht erreichten, denn Jean entwickelte eine erstaunliche Geschicklichkeit darin, ihnen auszuweichen.
Charity fragte sich, wie er die Tiere bei dieser Geschwindigkeit rechtzeitig erkennen konnte - sie selbst nahm nichts als verschwommene Farben und Formen wahr.
Schließlich wurde das Fahrzeug langsamer. Sie rasten noch immer mit sicherlich sechzig oder siebzig Meilen durch den Tunnel, aber nach dem, was sie gerade erlebt hatte, kam Charity diese Geschwindigkeit fast wie eine Erholung vor.
»Was war das?« fragte sie.
»Ratten«, antwortete Jean, ohne sich zu ihr herumzudrehen.
Charity schauderte. Wenn das Ratten gewesen waren ... einige der Bestien mußten so groß wie ausgewachsene Schäferhunde gewesen sein!
Allmählich konnte Charity ihre Umgebung erkennen. Die Pipeline war nicht überall so unbeschädigt wie auf dem Stück, das sie bis jetzt zurückgelegt hatten. Zwei- oder dreimal passierten sie gewaltige Löcher, die offenbar gewaltsam in den Tunnel hineingeschlagen worden waren. Und einmal sahen sie eine Stelle, an der die Decke eingebrochen war, so daß sie sich tief über den Sattel der Maschine beugen mußten, um überhaupt hindurchzukommen.
Und schließlich bemerkten sie Licht.
Zuerst war es nur ein Funke in der Finsternis vor ihnen, der aber rasch zu einem Kreis von rötlicher Helligkeit wurde. Jean verlangsamte das Tempo nochmals, und Charity sah, wie er den Scheinwerfer mehrmals aufblendete; vermutlich, um irgend jemandem ein Zeichen zu geben.
Plötzlich endete der Eisentunnel, und das sonderbare Gefährt rollte in einen gewaltigen, kreisrunden Dom aus rostigem Stahl. Es begann zu wanken und kippte schließlich träge zur rechten Seite, vom Gewicht der riesigen Ausleger aus der Balance gebracht. Charity klammerte sich instinktiv fester an Jean.