Trotzdem wurde sie fast aus dem Sattel geschleudert, als die beiden rechten seitlichen Räder mit einem harten Ruck auf dem Boden aufsetzten.
Jean trat hart auf die Bremse, schaltete den Motor aus und drehte sich grinsend zu ihr um. »Alles in Ordnung?« fragte er fröhlich.
Charity zog eine Grimasse. »Ja«, knurrte sie. »Aber wo zum Teufel haben Sie fahren gelernt?«
Mit einer eleganten Bewegung schwang der Franzose sich von der Maschine, trat einen Schritt zurück und streckte die Hand aus, um Charity aus dem Sattel zu helfen. Einen Moment lang war sie versucht, seinen Arm zu ignorieren, aber dann griff sie nach seiner Hand, kletterte umständlich vom Sattel der Maschine, die wie ein gestrandetes Schiff schräg zum Stehen gekommen war, und sah sich zum ersten Mal gründlich um.
Überall in der gewaltigen stählernen Halle standen Pibikes, wie Jean eines besaß, und keines ähnelte dem anderen. Es gab die absonderlichsten Konstruktionen, von denen einige nicht unbedingt so aussahen, als würden sie wirklich fahren. Ein Fahrzeug sah aus wie ein stählernes Spinnennetz, in dessen Zentrum ein Sitz angebracht war. Nun ja, dachte Charity spöttisch, warum auch nicht? Die Zeiten der industriellen Massenproduktion waren wohl endgültig vorüber. Was heutzutage hergestellt wurde, war Stück für Stück erlesene Handarbeit.
Sie löste ihren Blick von den Pibikes und drehte sich einmal im Kreis. Die Halle, in der sie sich befanden, war nichts anderes als ein riesiger, leerer Tank. Außer dem Tunnel, durch den sie selbst hereingekommen waren, mündete noch ein gutes Dutzend weiterer Pipelines in den rostigen Wänden. Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte sie ein mächtiges, aus schweren Eisenplatten zusammengeschweißtes Tor, das nachträglich eingebaut worden war. Wände und Decke zeigten auch hier ein wirres Fleckenmuster aus Rost und Teerschlamm, aber der Boden war überraschend sauber. Offensichtlich wurde diese Halle sehr oft benutzt.
Das Geräusch schwerer Schritte ließ sie herumfahren. Zwischen den willkürlich abgestellten Pibikes waren zwei Gestalten erschienen, die sich ihnen hastig näherten.
»Jean! Wo zum Teufel ...«
Der Mann - er war ein paar Jahre älter als Jean, trug aber die gleiche Art von Kleidung und hatte ein Gewehr bei sich - verstummte überrascht, als er Charity bemerkte. Für eine Sekunde schien er einfach nur verwirrt zu sein, dann nahm er sein Gewehr mit einer lächerlich langsamen Bewegung von der Schulter und richtete es auf Charity.
»Wer sind Sie?« fragte er.
Charity wollte antworten, aber Jean kam ihr zuvor. »Nimm das Ding runter, Henry«, sagte er. »Sie ist in Ordnung.«
Doch Henry senkte seine Waffe nicht. Charity registrierte besorgt, wie stark seine Hände zitterten. Sie hoffte inständig, daß der Abzug dieser offenbar selbst gebastelten Waffe nicht zu empfindlich war.
»Wer sind Sie?« wiederholte Henry. In seiner Stimme klang Angst mit.
»Bitte, Henry«, sagte Jean. Er trat mit einem raschen Schritt zwischen Charity und den anderen und begann mit den Händen zu fuchteln. »Laß den Quatsch! Ich erkläre dir ja alles!«
Henry antwortete nicht, aber sein Begleiter trat mit zwei, drei schnellen Schritten zur Seite und richtete eine zweite, gleichartige Waffe auf Charity. Im Gegensatz zu Henry zeigte sein Gesicht nicht die mindeste Spur von Nervosität.
»Geh zur Seite, Jean«, sagte Henry noch einmal.
Diesmal gehorchte Jean. Er warf Charity einen raschen, fast beschwörenden Blick zu und setzte erneut an: »Wenn du mir einfach zwei Minuten zuhörst, dann wirst du begreifen, daß du auf dem besten Wege bist, dich lächerlich zu machen.«
Henry sah ihn einen Moment lang unsicher an und senkte das Gewehr ein Stück. »Wer ist sie?« fragte er. »Wo kommt sie her?«
»Ich habe sie draußen getroffen«, antwortete Jean. »Im Dschungel, und ...«
»Im Dschungel?!« Henrys Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Auf der anderen Seite?« Blitzartig hob er das Gewehr wieder. Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen.
Jean seufzte. »Ich würde es gern erklären«, entgegnete er, »wenn du mich ausreden lassen würdest.« Er machte eine erklärende Geste auf Charity, dann auf sein Pibike und schließlich auf den Tunnel, aus dem sie herausgekommen waren. »Ich war drüben. Irgendwas geht auf der anderen Seite des Flusses vor.«
»Es gab eine Explosion«, sagte Henry. »Die ganze Zone ist in Aufregung. Da draußen muß irgend etwas in die Luft geflogen sein.«
»Ich weiß«, sagte Jean. »Es war ein Gleiter.«
Henry blickte ihn voller unverhohlener Zweifel an. »Ein Gleiter?«
»Er hat uns angegriffen«, bestätigte Jean. »Mich und sie und die anderen. Wir haben praktisch danebengestanden, als er hochging.«
»Welche anderen?« mischte sich der zweite Mann ein.
Diesmal kam Charity Jean zuvor, als er antworten wollte. Mit einem schnellen Schritt trat sie neben ihn und wandte sich an den Mann, der noch immer sein Gewehr auf sie gerichtet hielt.
Obwohl er nur einen einzigen Satz von sich gegeben hatte, hatte sie das sichere Gefühl, daß er derjenige der beiden war, mit dem sie reden mußte.
»Meine Begleiter und ich«, sagte sie auf französisch.
»Da draußen sind noch mehr?«
»Es sind noch drei«, sagte Jean. »Sie warten darauf, daß ich zurückkomme und sie abhole.«
»Du wirst überhaupt nichts tun«, fuhr ihn der Mann an. Er gab Henry einen Wink, ohne Charity auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Geh und sage Barler Bescheid, daß wir Besuch bekommen haben. Ich passe auf sie auf.«
Henry zögerte einen Moment, bevor er im Laufschritt verschwand.
»Jetzt mach doch keinen Blödsinn«, begehrte Jean auf. »Die drei anderen warten auf mich. Ich habe versprochen, sie abzuholen. Willst du, daß die Ratten sie fressen?«
»Du bleibst hier«, beharrte der Mann. »Ihnen wird nichts passieren. Wir kümmern uns schon um sie, keine Angst. Und Sie ...« Er machte eine knappe, aber befehlende Geste mit seinem Gewehr. »... legen bitte ganz vorsichtig Ihre Waffen auf den Boden.«
Charity schwieg und zog mit spitzen Fingern die Laserpistole aus dem Gürtel. Behutsam legte sie die Waffe vor sich auf den Boden und schob sie mit dem Fuß auf den Mann zu. Der Dunkelhaarige runzelte die Stirn, als er sah, daß es sich um einen der kleinen Strahler handelte, mit dem die Ameisen bewaffnet waren, sagte aber nichts.
Charity war plötzlich nicht mehr so sicher, daß sie sich mit Jeans Freunden wirklich die richtigen Verbündeten ausgesucht hatten. Sie warf Jean einen halb fragenden, halb zornigen Blick zu, den der Franzose mit einem verlegenen Achselzucken beantwortete.
»Das tut mir leid«, sagte er. »Ich verstehe auch nicht, was ...«
»Schon gut«, unterbrach ihn Charity. »Im Grunde haben sie ja recht. Sie wären keine besonders guten Wachposten, wenn sie mir nicht mißtrauen würden.«
»Blödsinn!« Jeans Gesicht verfinsterte sich, während er den Mann mit dem Gewehr anstarrte. Der andere erwiderte seinen Blick gelassen, und nach einer Weile wandte sich Jean wieder um und schlenderte scheinbar gelangweilt auf Charity zu.
»Hören Sie«, flüsterte er. »Sie ... wissen nichts von der Festung. Und es wäre mir lieb, wenn das so bliebe.«
Charity sah den Jungen überrascht an. Im ersten Moment erschien es ihr fast unglaublich, daß Jean seinen Fund all die Jahre hindurch für sich behalten hatte - aber ein zweiter Blick in sein Gesicht bewies ihr, daß es ganz genau so war.
»Ich will es versuchen«, antwortete sie leise.
»Was habt ihr beiden da zu flüstern?« fragte der Mann mit dem Gewehr scharf.