»Du weißt, was du getan hast, Kyle?« fuhr der Inspektor nach einer sehr langen Pause fort.
Kyle nickte.
»Du dürftest nicht mehr am Leben sein. Es ist denkbar, daß deine Überlebensinstinkte alles andere unterdrückt haben, als du gegen die beiden Soldaten kämpfen mußtest. Aber danach hättest du dich selbst töten müssen. Warum hast du es nicht getan?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Kyle. Seine Stimme zitterte. »Ich ... ich weiß nicht ... was ... was mit mir geschieht«, murmelte er gequält.
»Deine Konditionierung wurde durchbrochen«, antwortete der Inspektor. »Das ist erstaunlich. Ein bisher einmaliger Vorgang. Wir werden ihn untersuchen müssen.«
»Ihr wollt ihn doch nicht etwa am Leben lassen?« ächzte Stone. »Ihr müßt verrückt sein! Ihr ... ihr wißt genau, wozu er in der Lage ist!«
»Etwas, das nicht geschehen kann, ist geschehen«, antwortete der Inspektor sachlich. »Seine Konditionierung wurde durchbrochen. Wir müssen herausfinden, wie das geschehen konnte.«
»Ja, falls er euch Zeit dazu läßt«, sagte Stone zornig.
Der Inspektor befahl ihm mit einer Geste zu schweigen und deutete dann wieder auf Kyle. »Wir werden dich untersuchen, Kyle. Deine Programmierung wird überprüft und wenn nötig erneuert. Über das, was vorher im Shai-Taan von Colorado geschah, wird später entschieden werden. Ebenso, wie über dein weiteres Schicksal.«
*
Es dauerte gute zwanzig Minuten, bis Barler kam. Charity und Jean versuchten in dieser Zeit mehrmals, ihren Bewachern zu erklären, wer sie war, aber die Männer hatten sie nicht verstehen wollen und lediglich drei weitere Pibikes losgeschickt, um Skudder und die beiden anderen abzuholen. Kurz bevor der Führer der Freien Zone in dem umgebauten Öltank erschien, kehrten sie zurück. Weder Skudder noch Net sagten auch nur ein einziges Wort, als sie von den Rädern gezerrt und zu Charity gebracht wurden, nur Gurk schimpfte ununterbrochen in seiner unverständlichen Muttersprache vor sich hin und warf Charity einen bitterbösen Blick zu.
Als Barler schließlich erschien, erkannte ihn Charity sofort, noch bevor Jean ihr seinen Namen zugeflüstert hatte. Der Franzose mochte ungefähr vierzig sein, er war fast so groß wie Skudder, aber weniger muskulös. Er hatte dunkles, kurzgeschnittenes Haar, nur auf der linken Seite des Kopfes prangte die unverwechselbare Narbe einer alten Laserverletzung. Außerdem zog er das linke Bein ein wenig nach.
Aber trotz dieser Behinderung strahlte er eine ungeheure Selbstsicherheit und Stärke aus. Als Barler sah, daß Charity und die drei anderen von fast zwei Dutzend schwer bewaffneten Männern bewacht waren, schürzte er rasch und abfällig die Lippen. Aber er sagte nichts, sondern trat auf Charity zu, maß sie mit einem langen, nicht unbedingt unfreundlichen Blick und fragte in beinahe akzentfreiem Englisch: »Wer zum Teufel sind Sie?«
Skudder wollte antworten, aber Charity trat rasch einen halben Schritt auf Barler zu. Sofort hob der Mann hinter ihm drohend sein Gewehr. Barler wandte den Kopf und schenkte ihm einen ärgerlichen Blick, worauf der Mann mit einer fast verlegenen Geste seine Waffe wieder senkte.
»Also?« wiederholte Barler. »Wer seid ihr? Und wo kommt ihr her?«
»Mein Name ist Laird«, antwortete Charity. »Captain Charity Laird, US Space Force.« Sie lächelte flüchtig, als sie Barlers Stirnrunzeln bemerkte. »Aber das wird Ihnen wohl kaum etwas sagen.«
»Was bringt Sie auf diesen Gedanken, Miss Laird?« antwortete Barler. Er seufzte und sah für einen ganz kurzen Moment fast bekümmert aus. »Ich weiß nicht, welchen Eindruck Sie bisher von uns bekommen haben«, sagte er, »aber ich fürchte, er ist nicht ganz richtig. Wir sind weder Trottel noch Wilde. Ich weiß sehr wohl, was die US Space Force ist. Und ich weiß auch«, fügte er nach einer kurzen, aber bedeutungsschweren Pause hinzu, »daß sie seit fast sechzig Jahren nicht mehr existiert.«
»Das stimmt«, antwortete Charity vorsichtig. »Ich bin irgendwie übriggeblieben, wissen Sie?«
In Barlers Augen blitzte es ärgerlich auf. »Hören Sie auf, Unsinn zu reden, Captain Laird«, sagte er scharf. »Wer sind Sie? Und was ist das für eine Geschichte, daß Jean Sie drüben im Dschungel getroffen hat?«
»Das ist die Wahrheit«, antwortete Charity. »Aber es läßt sich nicht so einfach erklären. Es ist eine ...« Sie zögerte. »... eine ziemlich lange Geschichte.«
Barler lächelte gequält. »Wir haben sehr viel Zeit«, antwortete er. »Und ich bin ein geduldiger Zuhörer.«
Charity seufzte. Sie hatte gewußt, daß es nicht leicht sein würde, die Bewohner der Freien Zone davon zu überzeugen, daß sie wirklich die waren, für die sie sich ausgaben. Und trotzdem war sie im Moment verwirrt. Barler war so ganz anders, als sie erwartet hatte. Sie spürte, wie zerbrechlich das Eis war, auf dem sie sich bewegte. Barler war zweifellos ein Mann von großer Intelligenz - aber er würde keine Sekunde zögern, sie erschießen zu lassen, wenn sie auch nur eine falsche Antwort gab.
»Also gut«, begann sie. »Mein Name ist Charity Laird, und ich stamme aus ...«
8
Er hatte Angst. Er sehnte sich nach der Wärme seiner Mutter zurück, nach ihrer sanften Stimme und ihrem Geruch, aber statt dessen hatte er sich in einem Universum aus schimmerndem Chrom und kalten, funkelnden Geräten wiedergefunden, die er nicht verstand. In einer Welt voller riesiger Wesen, die ihn aus glitzernden Augen anstarrten und ihn manchmal mit ihren harten Krallen schmerzhaft berührten. Eine Zeitlang hatte er geschrien, aber niemand hatte darauf reagiert, und irgendwann war sein Schreien zu einem Wimmern geworden und schließlich ganz verstummt. Seither lag er hier, in einem Bett, das viel weicher war, als er es kannte. Er war zwei Jahre alt. Als es Abend wurde, begann er wieder zu weinen, und diesmal reagierte jemand darauf: Er hörte schwere, sonderbar klickende Schritte, und dann beugte sich eines der sonderbaren Wesen über sein Bett und starrte aus Augen auf ihn herab, die aus Millionen winziger geschliffener Glasflächen zu bestehen schienen.
Der Anblick dieses Wesens erschreckte ihn. Es war groß und hart, und es hatte zu viele Arme, dafür aber kein Gesicht. Er begann mit den Beinen zu strampeln und nach den dünnen, schwarzen Armen zu schlagen, die ihn aus seiner Wiege nahmen, aber natürlich erreichte er nichts. Das böse, schwarze Ding trug ihn zu einem Tisch, legte ihn darauf und hielt ihn mit zwei seiner schrecklichen Hände fest, während die beiden anderen sich an seinem Körper zu schaffen machten und ihm große Schmerzen zufügten. Sein Hals tat bald weh vom Schreien, und seine Kräfte erlahmten; trotzdem hörte er nicht auf, sich nach Leibeskräften zu wehren.
Das schwarze Ungeheuer zwang ihn, den Mund zu öffnen und zu trinken. Was in seine Kehle hinunter rann, schmeckte bitter. Er hustete, würgte das meiste wieder hervor und wäre fast an seinem eigenen Erbrochenen erstickt. Augenblicke später geschah etwas Seltsames: Eine wohlige Ruhe begann sich in seinen Gliedern breitzumachen, ein Gefühl von Wärme und Stärke, wie er es zuvor noch nie erlebt hatte, und gleichzeitig griff eine sonderbare Willenlosigkeit nach seinen Gedanken. Er wußte noch immer, wo er war, er wußte noch immer, daß man ihm seine Mutter genommen und ihm statt dessen dieses furchtbare, schwarze Ungeheuer gegeben hatte, und doch hatte er plötzlich nicht mehr die Kraft, sich zu wehren. Er hörte auf zu schreien, und nach einer Weile schloß er die Augen und schlief ein.
In dieser Nacht begannen die Träume.
Kyle wimmerte vor Schmerzen, als er die Augen öffnete. Es war keine körperliche Qual, sondern eine Pein, die tief aus seiner Seele emporstieg und die keine Droge, keine Konditionierung zu mildern vermochte. Es war die Qual der Erinnerung daran, wer er wirklich war und was sie mit ihm getan hatten.