»Er erwacht.«
Kyle fühlte, wie harte, kalte Insektenhände nach seinem Arm griffen und eine dünne Nadel in seinen Arm stachen. Augenblicke später lief eine heiß brennende Flüssigkeit in seinen Arm. Instinktiv versuchte er, seine veränderte Körperchemie dazu einzusetzen, das Medikament zu analysieren und zu neutralisieren. Aber es gelang ihm nicht. Was immer es war, es war stärker als er; eine Droge, die die Abwehrmechanismen seines Körpers überrannte und schon nach Sekunden seinen Kreislauf überschwemmte und sein Gehirn erreichte. Seine Umgebung begann wieder vor seinen Augen zu verschwimmen. Er sah die beiden weißen Gestalten der Inspektoren wie diffuse Gespenster vor sich, zwischen denen ein dritter, kleinerer Schatten tanzte.
»Warum tut ihr das?«
Er kannte diese Stimme. Sie gehörte Stone. Und er spürte, daß dieser Name etwas Besonderes für ihn war; etwas, das wichtig war und das er haßte wie sonst nichts auf dieser Welt.
»Er muß sich erinnern.« Diese Stimme klang anders, sie war kalt, als spräche eine Maschine und kein lebendes Wesen.
»Wir müssen den Moment finden, an dem sich ein Fehler in seine Konditionierung eingeschlichen hat. Nur so können wir sie erneuern. Und verhindern, daß er sich bei anderen wiederholt.«
Kyle war plötzlich nicht mehr in der Lage, sich zu konzentrieren. Die ungleichen Schatten begannen vor seinen Augen zu verschwimmen, und alles wurde unwirklich und unwichtig.
Er schloß die Augen und war wieder zwei Jahre alt.
*
»Und diese Geschichte soll ich jetzt glauben?« Barler lächelte kopfschüttelnd und fuhr sich mit einer unbewußten Geste über die verbrannte Haut an seiner linken Schläfe. Er stand in lässiger Haltung gegen eines der Pibikes gelehnt. Sein sympathisches Gesicht und die sanftmütigen Augen täuschten Charity keine Sekunde darüber hinweg, wie gefährlich Barler in Wahrheit war.
»Sie behaupten also, die Invasion der Moroni miterlebt zu haben? Sie haben die letzten fünfundfünfzig Jahre in einer Tiefkühlkammer zugebracht, und nachdem Sie aufgewacht sind, haben Sie natürlich sofort damit begonnen, die Erde von der Tyrannei der Invasoren zu befreien. Und nicht genug damit - es ist Ihnen sogar gelungen, das Vertrauen eines Jägers zu erringen.«
»Das weiß ich nicht«, erklärte Charity. »Aber immerhin hat er uns laufen lassen.«
Barler schüttelte abermals den Kopf. »Angenommen, Sie sagen die Wahrheit, Captain Laird. Dann versuchen Sie doch bitte, sich in meine Lage zu versetzen und mir zu sagen, ob Sie all das glauben würden, was Sie mir erzählt haben.«
Charity seufzte tief. Sie hatte diese Frage befürchtet, ohne darauf eine befriedigende Antwort zu wissen.
»Was zum Teufel erwarten Sie von uns«, fragte Skudder schlechtgelaunt. »Einen Persilschein der Moroni, von Stone gegengezeichnet?«
Barlers Fingerspitzen begannen, einen schnellen, leisen Rhythmus auf den Tank des Pibikes zu trommeln, an dem er lehnte, während er abwechselnd Charity und den Hopi ansah. »Ich weiß nicht, wer Stone ist«, sagte er. »Aber ich weiß, daß das, was Sie da erzählen, ziemlich unglaublich klingt.«
»Aber es ist die Wahrheit«, sagte Net. »Fragen Sie doch Jean. Er war bei uns. Immerhin haben uns die Ameisen um ein Haar umgebracht.«
»Ich bezweifle nicht, daß sie Ihre Feinde sind«, antwortete Barler geduldig, »aber Ihre Feinde müssen nicht unbedingt unsere Freunde sein. Außerdem«, fuhr er mit leicht erhobener Stimme fort, »stimmt mich vielleicht gerade die Tatsache Ihres Entkommens nachdenklich.«
»Wäre es Ihnen lieber, sie hätten uns erschossen?« fragte Net giftig.
»Ich lebe jetzt seit über vierzig Jahren hier«, erwiderte Barler, »und ich habe selbst ein paar von diesen Biestern erledigt. Aber ich habe noch nie gehört, daß es jemandem gelungen sein soll, einem Gleiter zu entkommen, geschweige denn, ihn zu vernichten.«
»Das waren wir nicht«, sagte Charity zum wiederholten Mal. »Es war dieser Panzer.«
Statt etwas zu entgegnen, warf Barler Jean einen langen, fast vorwurfsvollen Blick zu. Charity hatte erst nach einer Weile begriffen, daß tatsächlich niemand hier in der Freien Zone von der Existenz des Leopards wußte. Jean hatte seine Entdeckung wirklich jahrelang für sich behalten. Barler hatte bisher kein Wort darüber verloren, wohl aber zwei Männer zur Insel geschickt, damit sie sich Jeans Festung ansahen.
»Selbst wenn es diesen Panzer gibt«, sagte Barler nach eirer Weile, »dann erklären Sie mir eines: Die Gleiter patrouillieren fast ununterbrochen über dem Fluß, und Sie sind nicht die ersten Menschen, die von ihnen angegriffen werden. Wenn dieses Ding dort steht, und wenn es automatisch reagiert, sobald ein menschliches Leben bedroht wird, wieso hat es dann nicht schon vor fünfzig Jahren zugeschlagen?«
Charity zögerte einen Moment, zu antworten. Sie hatte sich diese Frage schon vor Stunden gestellt, als sie zusammen mit Jean im Inneren des Leopards gewesen war. Und sie glaubte die Antwort zumindest zu ahnen.
»Ich glaube, er hat nicht uns verteidigt«, sagte sie zögernd, »sondern mich.«
Barler zog die Augenbrauen zusammen. »Ich verstehe«, sagte er spöttisch. »Sein Elektronengehirn ist darauf programmiert, fünfundachtzigjährige Astronautinnen zu retten. Zumindest, wenn sie so gut erhalten sind wie Sie.«
»Nein«, antwortete Charity ernst. »Aber dieses Ding.« Sie öffnete die beiden oberen Knöpfe ihrer Uniformjacke, streifte die dünne, unzerreißbare Kette über den Kopf und hielt Barler ihre ID-Plakette entgegen, zog sie aber mit einem bedauernden Achselzucken wieder zurück, als der Franzose danach greifen wollte.
»Er würde Ihnen nichts nützen«, sagte sie erklärend. »Fragen Sie mich bitte nicht, wie es funktioniert, aber diese Ausweise sind auf ihre Träger abgestimmt. Sie funktionieren nur, solange sie sich in der Hand ihres rechtmäßigen Besitzers befinden.«
»Ein Class-A-Ausweis.« Barler verzog anerkennend die Lippen.
»Sie wissen, was das ist?«
»Natürlich«, antwortete Barler ruhig. »Ich sagte es doch schon einmal, Captain Laird - ich bin über einiges im Bilde.« Er lehnte sich wieder gegen die Maschine, starrte einen Moment lang an Charity vorbei ins Leere und wandte sich schließlich an Jean. »Du hast dieses Fahrzeug also vor fünf Jahren entdeckt«, sagte er.
Jean nickte. »Ja«, gestand er kleinlaut.
»Es ist dir nie gelungen, irgend etwas damit anzufangen?« fragte Barler. »Ich meine, außer darin herumzusitzen und unser aller Leben aufs Spiel zu setzen?«
Jean wich seinem Blick aus, während er verlegen den Kopf schüttelte. »Nicht viel. Ich ... habe entdeckt, wie man den Hauptcomputer einschaltet. Er ist irgendwie verschlüsselt, aber ich bin sicher, daß ich den Code herausfinden kann. Ich hatte schon angefangen, alle Möglichkeiten durchzuprobieren.«
»Oh«, Barler lächelte amüsiert. »Du meinst, du wolltest einfach wild herumprobieren, bis du den richtigen Code gefunden hast?«
Jean nickte. »Wie sonst?«
»Ja, wie sonst«, erwiderte Barler. Er sah Jean fast mitleidig an und schüttelte den Kopf, als könne er seine Naivität einfach nicht begreifen. »Ich fürchte, du hättest ziemlich lange herumprobieren können. Was meinen Sie, Captain Laird - wie lange hätte er gebraucht?«
Charity zuckte mit den Achseln. »Ich bin nicht sicher«, sagte sie, »aber wenn er jeden Tag zehn Stunden daran gearbeitet hätte ... hundert, vielleicht auch hundertfünfzigtausend Jahre.«
Jean erbleichte, und Barler lächelte einen Moment amüsiert und deutete dann auf die kleine ID-Plakette, die Charity noch immer in der Hand hielt. »Sie glauben also, daß der Panzer darauf reagiert hat?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Charity, »aber wenn all seine Systeme noch einwandfrei funktionieren, dann muß er das Signal aufgefangen und ausgewertet haben. Und wenn sein Elektronenrechner zu dem Schluß kam, daß dieser Angriff mein Leben bedroht ...« Sie machte eine vage Geste mit beiden Händen. »Nun, dann hat er so reagiert, wie es seine Programmierung für einen solchen Fall vorsieht.«