»Nur Nato-Generäle und hochrangige Regierungsbeamte bekommen einen Class-A-Ausweis«, sagte Barler.
»Ich weiß.«
Er sah Charity fragend an. »Sind Sie eines von beidem?« fragte er.
»Nein«, antwortete sie. »Aber ich habe trotzdem einen - wie Sie sehen.«
»Wenn dieses Ding echt ist«, sagte Barler.
»Das ist es«, antwortete Charity verärgert. »Aber ich habe leider nicht die geringste Ahnung, wie ich es Ihnen beweisen soll.« Sie streifte die Kette wieder über den Kopf, verbarg den Anhänger unter ihrer Jacke und schloß die Knöpfe wieder.
»Ich kann ja verstehen, daß Sie uns nicht trauen, Barler«, fuhr sie fort, »aber die Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe, ist wahr. Und wir haben einfach nicht genug Zeit, darauf zu warten, bis Sie sich entschlossen haben, uns zu glauben oder nicht. Früher oder später werden Kyles Brüder hier auftauchen, um nach uns zu suchen. Und es wäre besser für Sie, wenn wir dann nicht mehr hier sind.«
»Sie kommen nicht hierher«, antwortete Barler in so überzeugtem Ton, daß Charity ihm nicht mehr widersprach. »Und was die Frage angeht, ob ich Ihnen glaube oder nicht ...« Er sah Charity einen Moment lang nachdenklich an, stand plötzlich auf und machte eine auffordernde Handbewegung. »Folgen Sie mir!«
Barler winkte ab, als auch Skudder, Net und Gurk aufstehen wollten, um ihm zu folgen. »Nur Sie«, sagte er.
Skudder runzelte die Stirn, und Charity warf ihm einen raschen, besänftigenden Blick zu. »Es ist schon gut«, sagte sie. »Ich traue ihm.«
»Ich nicht«, sagte Skudder. »Wenn Sie ihr etwas antun, bringe ich Sie um«, rief er Barler nach.
Der Franzose lächelte und ging mit raschen Schritten um das Pibike herum auf das riesige Stahltor zu, wo er noch einmal stehenblieb und darauf wartete, daß Charity ihm folgte. Henry und ein zweiter Mann wollten sich ihm anschließen, aber Barler schüttelte den Kopf.
»Wir gehen allein«, sagte er. »Gebt inzwischen gut auf unsere Gäste acht.« Er deutete auf Skudder. »Und jemand soll sich um seinen Arm kümmern. Die Wunde sieht nicht gut aus.« Sie verließen den Raum und wandten sich nach links. Barler führte sie durch einen schmalen, niedrigen Korridor aus rostigem Metall, der am Fuße einer ebenfalls verrosteten Treppe endete. Charity war ein wenig überrascht, daß hier draußen nirgendwo Männer auf sie warteten. Barler schien wirklich allein mit ihr bleiben zu wollen. Das war ziemlich ungewöhnlich. Wenn er tatsächlich wußte, was die Space Force gewesen war, dann mußte er auch wissen, daß zu ihrer Schulung auch eine Nahkampfausbildung gehörte.
Die Treppe endete auf einem Korridor, an dessen gegenüberliegender Seite eine zweite, breitere Metalltreppe nach oben führte. Barler wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und machte eine auffordernde Handbewegung, als sie zögerte, ihm zu folgen.
»Wohin gehen wir?«
»Das werden Sie schon sehen«, antwortete Barler grob.
Fast eine Viertelstunde lang folgte Charity dem Franzosen durch gleichförmige, leere Gänge aus rostigen Eisenplatten, die ein regelrechtes Labyrinth unter der Erde bildeten, dann erreichten sie eine niedrige Metalltür.
Charity hielt überrascht mitten im Schritt inne, als Barler die rostige Stahltür öffnete, und sie sah, wo sie sich befanden.
Vor ihnen lag eine gewaltige, weiß gekachelte Halle, deren ganze Größe im flackernden Schein der wenigen Fackeln, die an den Wänden angebracht waren, nur zu ahnen war. Nur ein kleines Stück von der Tür entfernt begannen die unteren Stufen einer breiten, völlig verrotteten Rolltreppe. Auf der anderen Seite erstreckte sich fast ein halbes Dutzend schimmernder Schienenstränge, die am Ende der Halle zusammenliefen und in zwei riesigen, halbrunden Tunneln endeten. Charity registrierte beiläufig, daß sich auf diesen Schienen keine Spur von Rost zeigte.
»Das ist die Metro!« sagte Charity verblüfft.
Barler blieb stehen und blickte mit einem flüchtigen Lächeln zu ihr zurück. »Natürlich ist sie das«, sagte er. »Was haben Sie erwartet?«
Charity starrte fassungslos auf den gelbgestrichenen U-Bahn-Zug, der nur wenige Schritte entfernt stand. Er hatte nur einen Wagen, aber seine Türen standen offen und die Innenbeleuchtung brannte - zumindest soweit die Leuchtstoffröhren noch intakt waren. Charity hörte ein leises, vertrautes Summen; ein Geräusch, das ihr früher so selbstverständlich gewesen war, daß sie es gar nicht mehr wahrgenommen hatte.
»Sie ... funktioniert noch?« fragte sie ungläubig.
»Sie funktioniert wieder«, verbesserte sie Barler. Wieder lächelte er dieses seltsame, fast traurige Lächeln. »Nicht mehr ganz so zuverlässig und pünktlich wie früher, und die Züge fahren auch nicht mehr so oft. Aber dafür kann man jetzt getrost hier herunterkommen und braucht keine Angst zu haben, überfallen und ausgeraubt zu werden.«
Charity blickte abwechselnd ihn und den U-Bahn-Zug an. Der Anblick dieses zwar heruntergekommenen, aber völlig intakten Metro-Zuges erschütterte sie mehr, als sie selbst verstand.
»Wir benutzen sie nur sehr selten«, sagte Barler, dem ihr Erstaunen natürlich nicht entgangen war. »Sie verbrauchen eine Menge Strom, und die Ersatzteile für die Wagen werden allmählich knapp.« Er schien auf eine Antwort zu warten und machte dann eine einladende Geste auf den Wagen. »Kommen Sie!«
Charity war viel zu verblüfft, um zu widersprechen. Gehorsam folgte sie Barler und betrat das U-Bahn-Abteil. Sie fuhr erschrocken zusammen, als sich die Türen hinter ihnen selbsttätig schlössen, und griff hastig nach einem Halt, denn der Wagen setzte sich mühsam und mit kleinen, harten Rucken in Bewegung. Die Metrostation huschte an den Fenstern vorüber, dann tauchte der Wagen in einen der Tunnel ein, und Dunkelheit umgab sie.
»Setzen Sie sich, Captain Laird«, sagte Barler freundlich. »Es wird eine Weile dauern.«
Charity gehorchte, während Barler nach vorn ging, um mit dem Fahrer zu sprechen.
Das sanfte Rütteln des Wagens und das monotone, auf so erschreckende Weise fast vertraute Geräusch der eisernen Räder auf den Schienen begannen eine sonderbare Wirkung auf Charity auszuüben. Sie ließ sich in den zerschlissenen Kunststoffpolstern zurücksinken und bettete die Schläfe an der Scheibe, schloß die Augen und genoß das Gefühl des kühlen Glases auf der Haut, wie sie es so oft getan hatte, früher, in einem anderen, verlorenen Leben.
Aber vielleicht, dachte sie, hatten sie eine zweite Chance.
Vielleicht war es ihnen - nicht ihr oder Skudder, sondern den Generationen, die nach ihnen kamen, möglich, eine neue und vielleicht sogar bessere Welt aufzubauen. Möglicherweise hatten die Moroni nichts anderes getan, als eben den natürlichen Lauf der Dinge zu beschleunigen. Die Kultur des 20. Jahrhunderts war nicht die erste Zivilisation, die fast spurlos vom Antlitz dieser Welt verschwunden war.
Aber vielleicht war es die letzte. Wenn es ihnen nicht gelang, die Moroni zurückzuschlagen, dann würde es keine neue Zivilisation mehr geben, die sich wie Phönix aus der Asche aus den Trümmern der Welt erhob.
Es war so ... unfair, dachte sie. Fünfzig Jahre später, dachte sie bitter, und sie hätten diese Bestien dorthin zurückgejagt, wo sie hergekommen waren. Lächerliche fünfzig Jahre, bei einer Welt, deren Geschichte mehr als zehn Jahrtausende zurückreichte!
Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ließ sie die Augen öffnen. Barler stand vor ihr, den linken Arm leicht angewinkelt, den Daumen unter den Gürtel gehakt, und blickte auf sie herab. Ein sonderbarer Ausdruck lag auf seinem Gesicht: eine Mischung aus Bewunderung und Mißtrauen, in der keine Spur von Feindschaft zu liegen schien.