»Woran denken Sie?« fragte der Franzose.
»An ... nichts«, sagte Charity ausweichend. »Warum?«
Barler deutete ein Achselzucken an und lächelte ganz leicht. »Da war so ein sonderbarer Ausdruck auf Ihrem Gesicht«, antwortete er. »Irgendwie traurig.«
Charity zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte abermals den Kopf. »Es ist nichts«, sagte sie noch einmal. Nur um das Thema zu wechseln, richtete sie sich ein wenig im Sitz auf und deutete aus dem Fenster. Jenseits der blind gewordenen Scheiben herrschte absolute Finsternis. Die Fahrt durch diesen unterirdischen, leeren Tunnel, in dem seit einem halben Jahrhundert kein Licht mehr gebrannt hatte, wurde unwirklich, fast bedrückend, wie eine Szene aus einem Alptraum.
»Wie lange dauert die Fahrt noch?«
Barler setzte sich und blickte ebenfalls aus dem Fenster. »Noch eine ganze Weile«, antwortete er. »Wir müssen fast ans andere Ende der Stadt.«
Charity hatte irgendwie gehofft, daß er ihr sagen würde, wohin sie fuhren, aber diesen Gefallen tat er ihr nicht. Eine Weile sah sie ihn wortlos an, dann ließ sie sich wieder zurücksinken und legte erneut den Kopf gegen die Scheibe, aber diesmal ohne die Augen zu schließen. »Sie sind ein sonderbarer Mann, Barler«, sagte sie.
Ihr Gegenüber sah auf. »So?«
»Als ich das letzte Mal auf jemanden wie Sie getroffen bin«, sagte Charity, »wäre ich beinahe umgebracht worden. Und Skudder und die anderen auch. Sie haben uns nicht geglaubt, daß wir die sind, für die wir uns ausgeben.«
»Wer sagt Ihnen, daß ich Ihnen glaube?«
»Wir sind hier, oder?« antwortete Charity. »Ich meine, wenn Sie glauben würden, daß wir Spione der Moroni sind, dann wäre es ziemlich leichtsinnig von Ihnen, ganz allein mit mir in diesen Zug zu steigen. Oder halten Sie mich für harmlos, weil ich eine Frau bin?«
Zu ihrer Überraschung lachte Barler leise. Charity sah ihn verwundert an, und der Führer der Freien Zone antwortete mit einer erklärenden Geste: »Diese Frage allein beweist schon fast, daß Sie kein Spion sind, Captain Laird.«
»Wieso?« Die Art, auf die er das Wort Spion betont hatte, ließ sie aufhorchen.
»Wenn Sie die sind, für die Sie sich ausgeben«, antwortete Barler lächelnd, »dann habe ich nichts zu befürchten, oder? Und wenn nicht ...« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie und Ihre Freunde wirklich Jäger sind, die gekommen sind, um mich umzubringen ... Nun, dann können Sie das genauso gut hier wie an jedem anderen Ort tun. Es gibt so oder so nichts, was ich dagegen unternehmen könnte.«
Charity schwieg eine Weile. Die Antwort verblüffte sie. »Was sind Sie, Barler?« fragte sie schließlich. »Ein Fatalist oder Zyniker?«
»Vielleicht von beidem etwas.«
»Wird man so, wenn man vierzig Jahre lang auf der Flucht lebt?« fragte Charity ernst.
»Auf der Flucht?« Barler runzelte verblüfft die Stirn. Dann lächelte er wieder und schüttelte den Kopf. »Sie täuschen sich, Captain Laird. Wir sind keine Flüchtlinge oder Gefangenen.«
»Aber Sie sind ...«
»Später«, unterbrach sie Barler. »Lassen Sie uns später darüber reden, Captain Laird. Ich bitte Sie darum.«
Charity respektierte seinen Wunsch. Für den Rest der Fahrt, die tatsächlich noch eine gute halbe Stunde dauerte, schwieg sie. Nach einer halben Ewigkeit wurde der Zug langsamer und kam schließlich in einer weiteren Metro-Station zum Stehen. Anders als die, aus der sie abgefahren waren, war diese unterirdische Halle nicht erleuchtet. Aus den Fenstern des Wagens fiel ein wenig Licht auf den Bahnsteig.
Barler stand auf, ging in den hinteren Teil des Wagens und kam mit einem großen Handscheinwerfer und zwei Pechfackeln zurück. Er hängte sich den Scheinwerfer an den Gürtel, reichte Charity eine der Fackeln und trat wortlos auf den Bahnsteig hinaus. Dann entzündete er beide Fackeln. Das rote Licht schuf einen Kreis unsicherer Helligkeit rings um sie herum, aber es reichte längst nicht aus, die gewaltige, mit geborstenen, weißen Fliesen gekachelte Halle zu erhellen. Außerdem stanken die Fackeln erbärmlich, und von ihrem pechgetränkten Ende fielen immer wieder kleine Funken auf Charitys Hand herab.
Sie deutete auf den Scheinwerfer an Barlers Gürtel. »Funktioniert das Ding nicht?«
»Doch.« Barler nickte. »Aber wir benutzen sie nur, wenn es gar nicht anders geht. Die Batterien werden allmählich knapp, und es werden schon lange keine neuen mehr produziert.«
Charity entschuldigte sich in Gedanken bei Barler für diese dumme Frage. Das wenige, das sie bisher von der Freien Zone gesehen hatte - Jeans Pibike, diese Metro, die aus unerfindlichen Gründen noch funktionierte -, begann sie bereits vergessen zu lassen, wo sie sich befand. Die Welt hatte sich grundlegend verändert. Es gab nicht einmal mehr so selbstverständliche Dinge wie eine Batterie, die man achtlos wegwarf und gegen eine neue austauschte, wenn sie verbraucht war. Die Menschen des 21. Jahrhunderts lebten ausschließlich von den Resten, die ihnen die untergegangene Zivilisation übriggelassen hatte.
Sie durchquerten die Halle und benutzten die kaputte Rolltreppe, um nach oben zu gelangen. An ihrem Ende befand sich ein Netz aus breiten dunklen Flächen und schmalen Lichtstreifen, und als sie näher kamen, erkannte Charity, daß der Zugang mit einer provisorischen Bretterwand verschlossen war. Sie wollte Barler dabei helfen, die kleine Tür darin zu öffnen, aber er forderte sie mit einer Geste auf, seine Fackel zu halten, während er sich mit den quietschenden Scharnieren abmühte. Charity sah sich schaudernd um. Das Licht der beiden Fackeln reichte nicht besonders weit, aber was sie sah, ließ in ihr nicht den Wunsch aufkommen, mehr zu sehen. Am Rande des flackernden roten Kreises erkannte sie einen schattenhaften Körper, der ausgestreckt auf den Stufen der gegenüberliegenden Rolltreppe lag.
Draußen herrschte noch immer heller Tag. Nach dem Halbdunkel unter der Erde kam Charity selbst das milde grüne Licht dieser falschen Sonne fast unangenehm intensiv vor. Sie blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und brauchte einen Moment, um sich wieder an die veränderte Helligkeit zu gewöhnen.
Barler löschte seine Fackel, legte sie aber nicht aus der Hand, und Charity folgte seinem Beispiel. Sie entfernten sich in nördlicher Richtung vom U-Bahn-Schacht und bogen an der ersten Kreuzung ab. Charity sah sich aufmerksam um, während sie Barler folgte. Die Stadt war auch hier ein Opfer des Dschungels geworden; und doch unterschied sie sich völlig von dem, was sie auf der anderen Seite des Flusses gesehen hatte. Die Pflanzen wuchsen längst nicht so ungezügelt wie dort. Das Unterholz war weniger undurchdringlich, und es war sehr still.
Es dauerte einen Moment, bis Charity den Grund dieser Stille begriff: Das Gekreische der Tiere, das sie auf der anderen Seite des Flusses so erschreckt hatte, fehlte hier vollkommen. Sehr weit entfernt hörte sie lediglich das wehklagende Schreien eines Vogels, und einmal glaubte sie einen dunklen Schatten durch das Geäst brechen zu sehen. Die Menschen schienen hier die Tiere zurückgedrängt zu haben.
Auf ihre Fragen gab Barler bereitwillig Auskunft. »Wir haben von Anfang an darauf geachtet, daß die Biester nicht überhandnehmen«, sagte er. »Natürlich ist es uns nicht gelungen, sie völlig auszurotten. Ich würde Ihnen nicht unbedingt raten, allein und waffenlos in diesem Wald spazierenzugehen. Aber solange Sie auf den Straßen bleiben und ein wenig die Augen offenhalten, kann Ihnen kaum etwas passieren.«
Charity sah ihn überrascht an. »Sie haben die ganze Freie Zone gesäubert?«
Barler zuckte mit den Achseln und blieb stehen. »Oh, sie ist nicht so groß, wie Sie glauben«, antwortete er. »Nicht ganz elf Kilometer am Fluß entlang und knapp fünf in diese Richtung.« Er deutete nach Westen bis zur Mauer.
»Und dahinter?«
Barler maß sie mit einem undeutbaren Blick. »Das sollten Sie besser wissen als ich.«