»Diese Mauer«, fuhr Charity fort, »was genau ist sie?«
»Wenn wir das wüßten, hätten wir sie wahrscheinlich schon beseitigt«, erwiderte Barler ernst. »Es ist jedenfalls keine richtige Mauer. Ich werde sie Ihnen zeigen. Es ist nicht mehr weit von hier.«
Er ging weiter, so daß Charity keine Gelegenheit fand, eine weitere Frage zu stellen, sondern sich beeilen mußte, nicht den Anschluß zu verlieren.
Barler blieb plötzlich stehen und deutete auf einen gut zwei Meter hohen, schmiedeeisernen Zaun, der von Ranken und wuchernden Blättern fast zu einer undurchdringlichen Hecke gemacht worden war. Dahinter befand sich ein zweigeschossiges Gebäude aus weißem Marmor, das früher einmal ein wahrer Prachtbau gewesen sein mußte. Charity hatte das Gefühl, dieses Haus schon einmal gesehen zu haben. Dann fiel ihr Blick auf eine blind gewordene Messingtafel neben dem Tor, und nach einem Moment entzifferte sie die kaum noch leserliche Aufschrift:
EMBASSY OF THE UNITED STATES OF AMERICA
Überrascht sah sie Barler an. »Die Botschaft?« Barler drehte sich zu ihr herum und nickte. Er lächelte flüchtig. »Warum nicht? Ich bin sicher, Ihr Botschafter kann Sie identifizieren.«
Er sagte das mit solchem Ernst, daß es einen Moment dauerte, bis Charity überhaupt begriff, daß er einen Scherz gemacht hatte. Sie lachte gezwungen, ging weiter und ließ den Blick dabei neugierig über die Fassade des weitläufigen Prachtbaus schweifen.
Die Zerstörung, der ganz Paris anheimgefallen war, war auch an dem Botschaftsgebäude nicht spurlos vorübergegangen: Die meisten Fensterscheiben waren zerborsten, das Dach und ein Teil des darunterliegenden Stockwerkes waren zerstört; nur ein paar geschwärzte Balken ragten noch heraus. Die leeren Fensterhöhlen waren brandgeschwärzt. Charity fragte sich flüchtig, was hier geschehen war. Anders als New York, dessen Untergang sie mit eigenen Augen mitangesehen hatte, schien Paris nicht schnell und lautlos besiegt gestorben zu sein. Die Ruinen, die verkohlten Häuser und die gewaltigen Krater, denen sie auf Schritt und Tritt begegnet waren, sprachen ihre eigene Sprache.
Sie blieb vor der breiten Marmortreppe stehen, die zum Eingang hinaufführte. »Was wollen wir hier?«
Barler deutete zur Tür: »Gehen Sie weiter, Captain Laird. Dort drinnen finden wir die Antwort auf die Frage, wer Sie wirklich sind.«
Im Innern des Gebäudes war es so dunkel, wie sie erwartet hatte. Als sie die Tür hinter sich schloß und einen Moment stehenblieb, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, hörte sie ein leises, monotones Summen. Sie fuhr überrascht zusammen, als sie begriff, was es war. »Die Air Condition ...« murmelte sie überrascht.
Barler sah sie wortlos an.
»Sie funktioniert noch«, sagte Charity fassungslos. »Nach all dieser Zeit.«
Der Franzose nickte. »Hier drinnen funktioniert noch eine ganze Menge«, sagte er. Er hob die Hand und wies auf eine offenstehende Tür. »Sehen Sie.«
Charity erkannte einen Schreibtisch, in dessen Sessel ein vornübergesunkenes Skelett vergeblich versuchte, die schwarze Paradeuniform eines Marineinfanteristen auszufüllen. Vor dem fünfzig Jahre alten Leichnam stand ein staubbedecktes Computerterminal, auf dessen Bildschirm grüne Leuchtbuchstaben flimmerten.
»Unglaublich!« murmelte Charity.
Barler lächelte leicht. »Tja«, sagte er achselzuckend, »Vorkriegsware. Damals wurde eben noch Qualität hergestellt.«
Charity sah ihn verwirrt an. Sie war nicht sicher, ob in Barlers Stimme wirklich Spott mitschwang. »Was wollen wir hier?« fragte sie. »Sie haben mich doch nicht hierhergebracht, um mir das zu zeigen?«
»Natürlich nicht«, antwortete Barler. »Ich dachte nur, es interessiert Sie.« Er gab ihr mit einer Geste zu verstehen, ihm zu folgen.
Sie durchquerten das Erdgeschoß des Botschaftsgebäudes. Der tote Soldat draußen im Vorzimmer war nicht der einzige, auf den sie stießen. Charity hörte irgendwann auf, die halbzerfallenen Skelette zu zählen. Die meisten trugen die gleiche schwarze Marineinfanterieuniform wie der Mann draußen, und fast alle waren bewaffnet. Sie waren mit den Waffen in den Händen gestorben.
»Was ist hier passiert?« fragte Charity, als Barler vor einer schmalen Tür am Ende des Korridors stehenblieb und sich an ihrem Schloß zu schaffen begann.
»Sie haben versucht, sie aufzuhalten - aber Sie sehen ja, mit welchem Erfolg.«
Charity schüttelte den Kopf. »Wieso ist die Stadt so zerstört?«
Barler hörte für einen Moment auf, an der Tür zu hantieren, und warf ihr einen sonderbaren Blick über die Schulter hinweg zu. »Ich dachte«, sagte er, zwar lächelnd, aber plötzlich in wieder lauerndem, beinahe mißtrauischem Tonfall, »Sie waren dabei - nicht ich.«
Charity nickte. »Ich habe gesehen, wie New York unterging«, bestätigte sie. »Es geschah in wenigen Minuten, und sie setzten eine Waffe ein, die nur organisches Leben zerstörte. Doch Paris sieht aus, als hätten sie die Stadt Haus für Haus erobern müssen.«
Barler zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder dem Schloß zu. »So ungefähr muß es auch gewesen sein«, antwortete er. »Ich war zwar nicht dabei, aber nach allem, was ich gehört habe, müssen die Kämpfe fast ein halbes Jahr gedauert haben.«
»Aber warum?« wunderte sich Charity. »Wenn sie ...«
»Warum fragen Sie sie nicht selbst?« unterbrach sie Barler ärgerlich. Er sah wieder auf und lächelte entschuldigend. »Verzeihung«, sagte er, »das war wohl nicht besonders taktvoll.«
»Das macht nichts«, antwortete Charity. Plötzlich erscholl ein metallisches Klicken, und die Tür schwang einen Spaltbreit auf.
Barler trat zurück, um sie ganz zu öffnen, entzündete seine Fackel wieder und verschwand ohne ein weiteres Wort auf der schmalen Treppe, die hinter der Tür begann. Charity folgte ihm. Der Weg führte steil in die Tiefe. Die Wände bestanden aus nichts als nacktem Beton. Sie durchquerten einen Kellerraum, der mit allerlei Gerumpel vollgestopft war, bückten sich unter einer niedrigen Tür hindurch und gingen eine weitere Treppe hinab. Barlers Schritte wurden langsamer, und im unsicheren Licht der Fackel erkannte sie eine weitere, diesmal aus massivem Metall bestehende Tür.
Es dauerte auch jetzt eine Weile, bis er dieses weitere Hindernis geöffnet hatte, und dann löste er den Handscheinwerfer von seinem Gürtel, schaltete ihn ein und löschte sorgsam seine Fackel.
Charity sah ihn fragend an. Barler ließ den bleichen Strahl des Handscheinwerfers durch den Raum hinter der Tür gleiten; er enthüllte nichts als Staub und Beton. Dann richtete er den Strahl des Scheinwerfers gegen die Decke, und sie erkannte die winzigen, in konzentrischen Kreisen angeordneten Löcher in der Kunststoffverkleidung. Eine Sprinkler-Anlage. Und Barlers Verhalten nach zu urteilen schien sie sogar noch zu funktionieren.
Der Franzose betrat den Raum, machte ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Charity blinzelte, als er den Handscheinwerfer hob und ihr direkt ins Gesicht leuchtete. »Kommen Sie, Captain Laird«, sagte er. »Jetzt wird sich zeigen, ob Ihr Ausweis echt ist.«
Ein sehr ungutes Gefühl beschlich Charity, während sie dem Franzosen folgte. Barler nahm die Lampe wieder herunter, aber ihre Augen tränten von dem grellen Licht, und im ersten Moment hatte sie Schwierigkeiten, überhaupt etwas zu sehen. Als sich ihre Augen wieder umgestellt hatten, erkannte sie, daß sie sich nur in einer weiteren leeren Betonkammer befanden. Auf dem Boden lag der Staub von fünf Jahrzehnten. Fragend schaute sie Barler an.
Der Franzose trat einen Schritt zur Seite und schwenkte seinen Scheinwerferstrahl wie einen Zeigestab herum - und dann erkannte Charity schlagartig, wo sie sich befand!
Sie war so überrascht, daß sie im ersten Moment nur die von einem zerschrammten Aluminiumrahmen eingefaßte Tür anstarrte. Der Gang dahinter lag in völliger Dunkelheit, aber wenn man aufmerksam hinsah, dann konnte man das schwache Glimmen grüner und orangefarbener Lichter erkennen, die irgendwo sehr weit entfernt leuchteten.