Sie hatten das Ende des Ganges erreicht, an dem sich eine einzelne schmale Metalltür befand. Barler drückte die Klinke herunter, blieb einen Moment stehen und öffnete sie dann mit einem Ruck.
Sofort flammte in dem dahinterliegenden Raum weißes Neonlicht auf. Charity trat mit einem Schritt neben ihn. Sie wußte nicht, was sie erwartet hatte - aber das hier ganz bestimmt nicht. Hinter der Panzertür erstreckte sich ein gewaltiger, halbrunder Saal, der mit Computerbänken vollgestopft war. Die gesamte gegenüberliegende gerade Wand wurde von einem riesigen Bildschirm eingenommen, der aus zahlreichen, parallel geschalteten kleineren Monitoren bestand. Einige davon waren ausgefallen, die meisten aber noch intakt. Sie zeigten eine farbige, dreidimensionale Weltkarte, auf der zahllose rote und grüne Lichter glommen. Auch die meisten anderen Computermonitore waren noch in Betrieb; ihr grünes Flackern erfüllte den Raum mit einer unheimlichen Helligkeit, die Charity an das falsche Licht der türkisfarbenen Sonne erinnerte. Und überall lagen Tote: Männer in dunkelblauen Marine-und-Army-Uniformen, aber auch Zivilisten, die wie schlafend auf den Pulten zusammengesunken waren oder vor den einfachen Kunststoffstühlen lagen. Keiner von ihnen war gewaltsam gestorben, das erkannte Charity sofort. Und keiner dieser Toten war jünger als fünfzig Jahre.
»Großer Gott«, flüsterte Barler. »Was ist hier passiert?«
Charity antwortete nicht. Aber es war nicht besonders schwer, sich vorzustellen, was hier geschehen sein mußte: Die Invasoren hatten die Botschaft gestürmt, aber es war ihnen trotz ihrer Überlegenheit nicht gelungen, in diesen unterirdischen Komplex vorzudringen. Aber die Botschaftsangehörigen waren im Keller gefangen. Vielleicht hatten sie Monate ausgehalten, bis die Lebensmittel allmählich knapp wurden und sie einsahen, daß es keine Rettung mehr gab.
Charity drängte sich neben Barler durch die Tür und trat zögernd an eines der Computerpulte heran. Ihr Herz begann zu klopfen, als ihr Blick auf den flimmernden Monitor fiel. Sie verstand wenig von dem, was sie dort las, aber das, was sie bisher befürchtet hatte, wurde mehr und mehr zu Gewißheit. Unsicher streckte sie die Hand aus, tippte einige Worte in die dazugehörige Tastatur und wartete darauf, daß etwas geschah.
Auf dem Monitor erschienen grüne Leuchtbuchstaben, dann zischte etwas, und ein blauer Funkenregen quoll aus dem Gerät. Eine Sekunde später wurde der Bildschirm schwarz.
»Nun?« fragte Barler von der Tür aus. »Was ist das?«
Charity beachtete ihn gar nicht, sondern trat an eines der anderen Pulte. Mit klopfendem Herzen wiederholte sie die Eingabe, und diesmal gab das Gerät ihr bereitwillig Auskunft. Auf dem Monitor begannen grüne und weiße Zahlenkolonnen zu flackern.
Es dauerte fast eine Viertelstunde. Barler trat nach einer Weile neben sie und sah ihr neugierig über die Schulter hinweg zu, unterbrach sie aber nicht mehr, während sich Charity behutsam tiefer in die Geheimnisse des Computersystems hineinarbeitete. Es fiel ihr sehr schwer. Nichts von dem, was sie hier sah, gehörte zu ihren eigentlichen Aufgaben, aber sie wußte, wonach sie zu suchen hatte.
Schließlich richtete sie sich wieder auf und sah zuerst Barler, dann den riesigen Wandmonitor betroffen an. »Ich glaube, ich weiß jetzt, warum sie so scharf darauf waren, das hier unbeschädigt in die Hand zu bekommen«, sagte sie leise.
Barler sah sie fragend an und schwieg.
»Es muß so etwas wie das Gegenstück des nordamerikanischen NORAD sein«, murmelte Charity.
Barler sah sie wieder fragend an, und Charity erklärte: »Ich kann mich täuschen, aber ich bin fast sicher, daß hier unten beinahe die gesamte NATO-Logistik abgespeichert ist.« Sie machte eine Handbewegung auf den Bildschirm. »Jedes Waffenlager, jeder Flugplatz, jeder geheime Stützpunkt ... Einfach alles.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht«, sagte Barler.
Charity deutete erregt auf den Bildschirm. »Sie haben uns geschlagen, Barler«, sagte sie erregt. »Und wir haben ihnen auch noch dabei geholfen, indem wir ihnen die Tür aufgemacht haben. Sie haben unsere gesamte Verteidigung mit einem Schlag lahmgelegt, aber sie existiert noch. Begreifen Sie? Es ging alles viel zu schnell, als daß wir uns wirklich hätten wehren können, aber das meiste von dem, was wir hatten, ist immer noch da.«
»Sie meinen ... Waffen?« fragte Barler.
»Waffen, Flugzeuge, Schiffe, Vorratsdepots, Treibstofflager ... Was immer Sie wollen. Es gab eine Menge geheimer Lager damals, und ich schätze, als die Militärs begriffen, daß sie den Kampf verloren haben, haben sie noch eine ganze Menge mehr versteckt.«
Barlers Augen weiteten sich, als begreife er erst jetzt, was ihr Fund wirklich bedeutete. »Und hier ist ...«
»Alles aufgezeichnet«, bestätigte Charity. »In diesen Computern dürfte die exakte Position jeder geheimen Basis und jedes Depots verzeichnet sein, die es in Westeuropa gab.«
»Aber dann ...« Barlers Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. »Dann könnte man eine Armee ausrüsten.«
»Theoretisch - ja«, sagte Charity leise.
»Was soll das heißen?«
»Ich weiß nicht, wie wir an diese Informationen herankommen.« Charity machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum einschloß. »Das meiste von dem Zeug funktioniert wahrscheinlich nicht mehr. Und die meisten Daten dürften verschlüsselt sein.«
»Könnten Sie es schaffen?« fragte Barler.
Charity lächelte humorlos. »Wenn ich ein bißchen mehr von Computern verstehen würde und wenn ich genug Zeit hätte ...«
»Wieviel Zeit?« wollte Barler wissen.
»Erinnern Sie sich an meine Antwort an Jean, als er fragte, wie lange er wahrscheinlich gebraucht hätte, den Panzer zu knacken?« fragte Charity statt einer direkten Antwort.
»Sie meinen ...«
»Ich meine, daß es auf jeden Fall sehr schwierig sein dürfte, mit dem, was wir hier gefunden haben, wirklich etwas anzufangen.« Sie seufzte. »Es tut mir leid, wenn ich Sie jetzt enttäusche, aber das alles hier ...« Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist es besser so.«
»Wir haben ein paar Leute, die sich mit Computern auskennen«, bemerkte Barler nachdenklich.
»Und wenn?« Charity zuckte erneut mit den Achseln und wandte sich von dem Pult ab. »Glauben Sie mir, Barler, es würde Ihnen nicht sehr viel nutzen. Sie kommen ja nicht einmal aus dieser Stadt heraus.«
»Das stimmt«, antwortete Barler. Plötzlich verdunkelte sich sein Gesicht vor Zorn. »Weil wir wehrlos sind. Weil wir nur leben, solange sie es uns gestatten. Sollen wir damit gegen sie kämpfen?« Er schlug ärgerlich mit der flachen Hand auf die Pistolentasche an seinem Gürtel. »Wenn wir mehr von diesen Panzern hätten, den Jean auf der Insel gefunden hat, oder ein paar vernünftige Geschütze ...«
Charity verbiß sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Sie verstand Barlers Reaktion; aber sie stimmte sie eigentlich nur traurig. Mit Waffen war der Krieg gegen die Invasoren nicht zu gewinnen.
»Und es geht nicht nur darum«, fuhr Barler fort. »Ich weiß, was die NATO war. Die Militärs haben nicht nur Waffen hinterlassen. Es gibt so viel, was wir brauchen, so viel, was wir lernen könnten - und alles ist hier.«
»Ja«, seufzte Charity. »Ich weiß nur nicht, was wir damit anfangen sollen.«
»Wir haben Zeit«, widersprach Barler. »Sie und Ihre Freunde können bei uns bleiben. Sie können uns helfen.«
»Ich fürchte, genau das können wir nicht«, antwortete Charity matt. »Wir wären nur eine Gefahr für Sie. Früher oder später werden sie herausbekommen, wo wir sind, und dann werden sie kommen und nach uns suchen.«
»Früher oder später vielleicht«, antwortete Barler, »aber bis es soweit ist, können Sie uns helfen. Und wir Ihnen.« Er zögerte einen Moment, dann fragte er: »Können Sie diese Mikrowellen-Barriere abschalten?«
Charity nickte.