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»Dann tun Sie es bitte«, sagte Barler. »Ich werde ein paar Leute hierher schicken, die sich mit diesen Geräten auskennen. Wenn Sie wollen«, fügte er hinzu, »warte ich damit auch, bis Sie die Stadt verlassen haben.«

»Warum nicht?«

Charity war nicht sehr wohl bei dem Gedanken. Ohne einen Grund dafür nennen zu können, hatte sie das Gefühl, daß es ein Fehler gewesen war, diese Station aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Plötzlich wollte sie gehen. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn sie auch nur noch eine einzige Minute in diesem Saal blieb. Mit einem Ruck wandte sie sich gänzlich um und schritt wieder zum Ausgang, blieb dann aber noch einmal stehen, als ihr Blick den mumifizierten Leichnam eines Marinesoldaten streifte. Sie zögerte und bückte sich dann, um die Waffe des Toten an sich zu nehmen.

Es war ein schwerer Gamma-Laser. Sie überprüfte seine Ladung, blickte aufmerksam durch die Zieloptik und hängte sich die Waffe dann über die Schulter.

Barler sah sie fragend an. »Wollen Sie den Ameisen jetzt ganz allein den Krieg erklären?«

Charity schwieg. Sie wußte die Antwort nicht. »Sie wollten mir die Mauer zeigen«, sagte sie knapp.

9

Kyle war fünf Jahre alt gewesen, als er die Trainingskuppel das erste Mal betrat. Vieles hatte sich verändert seit jener schrecklichen Nacht, in der man ihm seine Mutter und seine Welt weggenommen hatte. Manchmal erinnerte er sich noch, daß es eine Zeit gegeben hatte, in der der Himmel über ihm blau statt grün gewesen war und in der sich nicht die starre Chitinmaske einer Riesenameise, sondern ein weiches Gesicht über ihn beugte, wenn er vor Hunger oder Müdigkeit schrie.

Aber die Erinnerungen - und die Träume, die ihn anfangs geplagt hatten - kamen immer seltener. Er begann zu vergessen, seine Erinnerungen wurden ausgelöscht. Und es geschah jetzt nur noch ganz selten, daß er plötzlich das Gefühl hatte, nicht hierher zu gehören.

Dafür begann er so schnell und spielerisch zu lernen, wie nur Kinder lernen konnten. Er begriff nicht wirklich, was er lernte, aber das Wissen wurde in seinem Gedächtnis abgespeichert, bereit für den Tag, an dem er es brauchen würde. Man lehrte ihn, schwierige Entscheidungen und komplizierte Denkvorgänge auf jener Ebene seines Geistes ablaufen zu lassen, die normalerweise nur unbewußtem Denken vorbehalten war. Außerdem lernte er seinen Körper perfekt zu beherrschen und seine Gefühle perfekt zu beherrschen.

Bald wußte er auch, daß die harten, schwarzen Geschöpfe, die ihn in den ersten Tagen und Wochen so erschreckt hatten, nicht seine Feinde waren. Sie waren auch nicht seine Freunde, denn manchmal fügten sie ihm Schmerz zu, aber wenn sie nicht kamen, um ihn in einen jener schrecklichen Räume zu bringen, in denen es scharfe Messer und dünne, lange Nadeln gab, die in sein Fleisch bissen, dann waren sie seine gehorsamen Diener, die fast jeden seiner Wünsche erfüllten.

Im Alter von zweieinhalb Jahren hatte er gelernt, zusammenhängende Sätze zu sprechen, und für eine Weile hatte es ihm große Freude bereitet, dem Tyrannen, der in jedem Kind verborgen war, freien Lauf zu lassen und die schwarzen, großen Wesen alles tun zu lassen, was ihm gerade einfiel. Einige hatte er gegeneinander kämpfen lassen, bis eines tot und blutend am Boden lag, und für eine Weile hatte er große Freude an diesem Spiel gefunden. Später hatten sie ihm dann Waffen gegeben und ihn gegen die schwarzen Kolosse antreten lassen. Und obwohl sie sich wehrten, hatte er sie erschlagen.

Dann hatten sie ihn eines Tages wieder in jenen schrecklichen Schmerzraum gebracht, und als er aus der Bewußtlosigkeit, die jedem dieser Besuche unweigerlich folgte, erwachte, da hatte er schlagartig begriffen, daß diese Geschöpfe weder seine Spielzeuge noch seine Sklaven, sondern seine Diener waren. Wesen, die kaum mehr wert waren als Maschinen, und doch war es schlecht, sie aus einer puren Laune heraus zu zerstören, und er hatte damit aufgehört.

Als er fünf Jahre alt war, spürte er zum ersten Mal die Berührung des Todes.

Niemand hatte ihm je gesagt, wie lange er hier war oder wie lange er hier noch bleiben würde.

Niemand hatte ihm je gesagt, was ein Jahr war oder ein Monat oder ein Tag.

Er hatte einen Freund. Sein Name war Mark. Eigentlich waren sie Einzelgänger, Einzelkämpfer, die keinerlei Gefühle kennen durften. Aber Mark und er waren oft zusammen, wenn es ihre Trainingsstunden erlaubten, und er fühlte sich auf eine schwer verständliche Weise zu dem dunkelhaarigen Jungen hingezogen, der etwas größer und kräftiger war als er. In seinem Inneren spürte Kyle, daß dieses Gefühl verwerflich war, gleichzeitig bewahrte er es aber in seinem Herzen auf wie einen Schatz, sein großes Geheimnis, von dem niemand etwas wußte, nicht einmal die Diener. So oft es ihre Zeit zuließ, trafen sich die beiden; ein Verhalten, das von den Dienern zwar nicht gern gesehen, aber akzeptiert wurde.

Da sie jung waren, durften sie nur in der ersten der drei riesigen Silberkuppeln üben; einem gewaltigen, künstlich geschaffenen Gelände voller wechselnder Temperaturen, wechselnder Lichtverhältnisse und wechselnder Schwerkraft, in dem mannigfaltige Gefahren lauerten. Obwohl die Dienerkreaturen, die für seine Ausbildung verantwortlich waren, es niemals unterlassen hatten, ihn auf die Gefahren hinzuweisen, die in dieser künstlichen Welt lauerten, hatte Kyle doch die Zeit, die er bisher hier verbracht hatte, als eine Art großes Abenteuer betrachtet, ein gefährliches, aber aufregendes Spiel, das ihm immer wieder neue Herausforderungen bescherte. Kyle und Mark unterschätzten es keinen Augenblick. Der Tod gehörte zu ihrem Tagesablauf wie die morgendlichen Meditationsübungen und die Stunden im Schlaftrainer. Sie hatten mehr als einen ihrer Gefährten in der Kuppel sterben sehen. Auch Kyle war mehrmals verletzt worden, aber nie so schwer, daß sein bereits erstaunlich regenerationsfähiger Körper nicht damit fertig geworden wäre. Die Dienerkreaturen betraten diese Kuppeln fast nie; und wenn dann nur, um einen Toten fortzuschaffen oder einzugreifen, wenn sich einer der Schüler regelwidrig verhielt.

Der Weg, den sie jedesmal zurücklegen mußten, führte zwischen niedrigen Sanddünen entlang, die beständig ihre Form wechselten und nicht immer nur aus Sand bestanden. Einmal hatte Marks hypersensibilisiertes Gehör ihn gewarnt, sich einem harmlos aussehenden Hügel zu nähern. Aus sicherer Entfernung hatten sie dann in die Düne einen Stein geworfen, worauf der Sand explodierte und eine Armee kleiner, aber tödlicher Insektenwesen zum Vorschein gekommen war.

Sie hatten den Parcours fast hinter sich gebracht, als der Schneider auftauchte. Mark und er hatten das zweieinhalb Meter hohe Maschinenwesen, dem sie schon mehrmals begegnet waren, in stiller Übereinkunft so getauft, denn es hatte zwar einen glitzernden Eisenkörper, der entfernt an den der Dienerkreaturen erinnerte, bestand aber zum größten Teil aus rasiermesserscharfen Klingen und Schneiden, die in allen nur denkbaren Winkeln rotierten und zuckten. Das Geschöpf war nicht besonders schnell, aber es hatte wenig Sinn, vor ihm davonzulaufen, denn es kannte weder Müdigkeit noch Erschöpfung und verfolgte sein Opfer unerbittlich. Die kleinen, handlichen Strahlenpistolen, mit denen Kyle und seine Gefährten ausgerüstet waren, waren gegen dieses Maschinengeschöpf nutzlos. Dennoch besaß es eine verwundbare Stelle: An seinem Hinterkopf gab es einen kleinen, gelben Schalter, den es zu erreichen oder mit einem geschickten Steinwurf niederzudrücken galt, um es sofort zur Salzsäule erstarren zu lassen.

Als Mark und Kyle das charakteristische Rasseln und Klirren des Schneiders hörten, wichen sie automatisch auseinander, damit das Geschöpf sie nicht beide gleichzeitig angreifen konnte und zumindest einer die Gelegenheit fand, ihn außer Gefecht zu setzen. Sie hatten viel gelernt, aber sie hatten noch nicht ganz begriffen, daß es nichts gab, was vorhersehbar war. Als der Schneider zwischen den beiden Dünen vor ihnen erschien, da warteten Mark und Kyle darauf, daß er einen Herzschlag lang zögern und sich dann auf einen von ihnen stürzen würde.